Die „souveräne Leserin“

von Antje Hirschberg 

Bei der Lektüre von Alan Bennetts Büchlein „Die souveräne Leserin“ (s.u.) spürte ich sofort, dass mich etwas verbindet mit seiner Protagonistin, der Queen. Was ist es?

Lesen lernen

Seit ich lesen kann, ist es für mich ein elementares Bedürfnis, wie Essen und Trinken. Lange habe ich mir keine Gedanken über das Lesen gemacht, bis ich merkte, dass es auch Menschen gibt, für die das Lesen nicht selbstverständlich ist.
Mir selbst ging es nicht anders als den meisten Menschen: schon als Kind kommt man zum Lesen, vom Erkennen von Schriftzeichen geht es zum Erlernen der Buchstaben, daraus setzen sich Worte zusammen, mit denen Gegenstände und Begriffe benannt werden können. Diese Bausteine werden zu Sätzen verbunden, die wiederum zu Geschichten verknüpft werden können.

So ging es weiter

Auf der Basis dieses „technischen“ Vorgangs des Lesens entstand das Bedürfnis, alles Lesbare zu entschlüsseln, ja es kam sogar zu einem echten Lesehunger, der gestillt werden musste. Denn eines war mir schnell klar, wer aus irgendeinem Grund kein Interesse oder keine Gelegenheit zum Lesen hat, der wird zum „sekundären Analphabeten“ und schließt sich damit aus weiten Bildungsbereichen aus. Das beste Mittel dagegen ist Anregung und Vorbild des Umfeldes. Lesende Erwachsene, elterlicher Bücherschrank, Tageszeitung und sogar Comics lassen den Lesefaden des Kindes nicht abreißen und verankern es in der Welt der Lektüre.

Aber Lesen allein ist ja nicht alles

Das demonstriert die eingangs erwähnte Erzählung in ganz besonderer Weise. Sie vermittelt mit feinem englischen Humor die ganze Vielfalt des Lesens: die fiktive Geschichte der englischen Queen, die ein langes, ereignisreiches und pflichtbewusstes Leben führte und erst spät die Freuden des Lesens kennenlernt. Mit Hilfe und unter der Anleitung eines jungen Mannes, dem sie zufällig im Bücherbus des Palastes begegnet, arbeitet sie sich Schritt für Schritt in die Literatur ein, bis er für sie zum unentbehrlichen Berater und Begleiter wird.

Die ganze Welt des Lesens

Dabei erschließt sich ihr eine andere Dimension, und sie erkennt, welche Welt ihr bis jetzt verborgen war. Denn Information ist nicht gleich Lesen. Information schließt ein Thema ab, Lesen lädt zum Diskurs ein und regt zum Denken und Weiterdenken an. Sie fängt mit einfacher Lektüre an, wird immer anspruchsvoller und kritischer und gewinnt dadurch neue überraschende Erkenntnisse. Mit zunehmendem Unverständnis ihrer Umgebung für ihre besorgniserregende ,,Lesesucht“ verfeinert sich ihr Geschmack, Lesen hat plötzlich neben ihren Verpflichtungen Relevanz. Sie taucht in das Leben anderer ein und wird empfänglicher für ihre Gefühle. Die ganze Bandbreite der Literatur entfaltet sich vor ihr. Ein Buch ist kein Zeitvertreib, sondern Erleuchtung und Freude, und es kann ein Sprengsatz sein, der die Phantasie freisetzt. Wehmütig wird ihr bewusst, dass Literatur ein riesiges Land ist, dessen Grenzen sie in ihrem Alter nicht mehr erreichen kann.

Vom Lesen zum Schreiben

Immer häufiger macht sich die Queen beim Lesen Notizen, hört schließlich auf zu lesen und befasst sich mit dem Gedanken, selbst zu schreiben. Das ist für sie die logische Folge, denn ,,Lesen ist Zuschauen, Schreiben ist Tun“. Sie blickt mit Klarsicht und leiser Ironie auf ihr Leben am englischen Königshof und möchte eine Stimme haben, um sich auszudrücken. Die Welt des Lesens hat sie im hohen Alter aus ihren Zwängen befreit, sie glücklicher, verständnisvoller und unabhängiger gemacht.

Das ist es, was ich mit der Queen gemeinsam habe: vom allgemeinen Lesen zum Genuss des Lesens, jedoch nicht nur als Selbstzweck, sondern „vom Lesen zum Schreiben“.

Lektüre: Alan Bennett, Die souveräne Leserin. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008