von Dieter v. Lüpke
Es ist 8.30 h. Eine Horde von Kindern stürmt vom Schulhof in den Vorbereich der Klassenräume. Rucksäcke, Schulranzen, Beutel und Federmäppchen fliegen durch die Luft.
Begrüßung
Jacken, Mützen und Schals werden aufgeregt entsorgt, Straßenschuhe gegen Hausschuhe gewechselt. Es herrscht ein ohrenbetäubender Lärm – eine Lehrerin meint: „wie am Rollfeld des Flughafens beim Start eines Airbus“. Die Kinder nehmen in ihrem Klassenzimmer Platz – und verstummen schlagartig, als die Lehrerin einen Zeigefinger vor den Mund hält und den anderen Arm hebt. In die Stille hinein wird den Kindern ein „Guter Morgen, liebe Kinder“ gewünscht, worauf ein eingespielter Chor lautstark antwortet: „Guten Morgen, Frau Müller und – ( kleine Pause ) Herr v. Lüpke“. Ein Willkommensgruß, wie ihn der Berichterstatter in langen Jahren seines Berufslebens nie erlebte. Und auf die Frage: “Wer will denn heute mit dem Herrn v.Lüpke lesen?“ gehen viele Hände in die Luft.
Sabrin
Die kleine Sabrin sitzt in einem Nebenraum vor dem von ihr ausgewählten Buch. Voller Konzentration blickt sie auf ein Wort – als ob sie dieses vollumfänglich sich zu Eigen machen wollte. Dann ist ein leises Flüstern zu hören. Und nach dieser Generalprobe heißt es schließlich entschieden, laut und deutlich: „Salat“. So geht es Wort für Wort weiter. Gelegentlich fragt der Lesepate nach dem Sinn des letzten Satzes (Lesen können ist nicht gleichbedeutend mit Verstehen können) – oder er hilft bei der Aussprache besonders langer ( „Fahrkartenautomat“ ) oder besonders ausgefallener Worte („Expedition“ ). Nach zwanzig Minuten lässt die Konzentration nach. Die Beine rudern unter dem Tisch unruhig hin und her, der Blick schweift nach außen, Lesen wird durch Raten ersetzt oder es wird der Versuch unternommen, den Lesepaten mit Fragen nach seinen Familienverhältnissen oder seinen Vorlieben abzulenken. Dann ist es Zeit, Sabrin von ihren Leseaufgaben zu befreien. Und wenn ein überwiegend fehlerfreies Lesen gelobt wird, geht das Kind mit bescheidenem Stolz in seine Klasse zurück.
Die Lesepaten
In den Grundschulen von Frankfurt am Main sind unter dem Schirm der Frankfurter Bürgerstiftung 300 bis 350 Lesepaten ehrenamtlich tätig – neben ähnlichen Aktivitäten anderer Initiativen. Es ist eine Tätigkeit, die die überwiegend älteren Lesepaten mit einer „anderen Welt“ zusammen führt : mit der quirligen, neugierigen und kreativen Welt der Kinder. Mit einer bunten Welt, in der die kleinen Johanns, Annelieses, Josephines und Emils Sabrin, Emre, Michail, Finia, Achmed und Jussuf begegnen. Lesepaten erfahren, dass Kinder noch für sehr viele Dinge und Erfahrungen offen sind, dass sie aber auch Sorgen und Probleme kennen und für Unterstützung außerhalb der Familie dankbar sind.
Meine Lesepatenschaft
Ich kann nach ca. 1 ½ Jahren Lesepatenschaft nicht präzise beschreiben, in welchem Umfang mein Engagement die Lesefähigkeiten der Kinder gefördert hat. Ich bin aber sicher, dass Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein der Kinder wachsen, indem sie erfahren, dass ein Erwachsener sich ausschließlich für jeweils ein Kind Zeit nimmt und ihm konzentriert zuhört. Lesen steht bei Kindern nach wie vor hoch im Kurs steht – jedenfalls, wenn es sich um spannende und lustige Bücher handelt. Und einem Lesepaten vorlesen zu dürfen, ist sehr begehrt – sei es, um Lob für fehlerfreies und flüssiges Lesen einzuholen – sei es, um Hilfe von einem hilfsbereiten Erwachsenen außerhalb von familiären und schulischen Ordnungen zu erhalten. Und auch wenn Kinder mit der Versetzung in höhere Klassen aus dem Blickfeld geraten: auf dem Schulhof wird man oft von alten Bekannten mit einem fröhlichen bis herzlichen „Hallo, Lesepate“ begrüßt.
Nebeneffekte
Dazu kommen positive Nebeneffekte: Gespräche mit den Lehrerinnen und (wenigen) Lehrern ( manchmal mit Kaffee und Kuchen angereichert ), Teilnahme an Exkursionen der Schulklassen ( zum Beispiel in Kunstausstellungen ) oder Teilnahme an besonderen „Events“ innerhalb der Schule ( wie Theateraufführungen oder Musizieren mit erstrangigen Musikern renommierter Orchester ). Treffen mit anderen Lesepaten werden zwecks Fortbildung oder Erfahrungsaustausch von der Frankfurter Bürgerstiftung organisiert.
Das Engagement eines Lesepaten ist insgesamt „niedrigschwellig“ und gewinnbringend – ich kann die Tätigkeit aus voller Überzeugung empfehlen!