von Brigitte Höfer
Dies ist eine Ergänzung zu dem Artikel von Angelika Ohly
Inhalt des Buches:
Elternhaus
Die traumatisierte stumme Mutter gibt ihr Leiden an den Sohn weiter: mit drei oder vier Jahren hört Hanns-Josef Ortheil auf zu sprechen. Er ist ständig um seine Mutter, geht mit ihr in die Kirche, spazieren, zum Einkaufen, beobachtet sie, wie sie am Fenster sitzt, Tee trinkt, liest und zum Fenster hinausschaut.
Wie der Klavierunterricht aussieht, den sie ihm erteilt, ist nicht beschrieben. Aber er macht wohl gute Fortschritte.
Wo ist der Vater? Es wird beschrieben, dass er, wenn er abends nach Hause kommt, die Zettel liest, die die Mutter geschrieben hat. Er sammelt sie alle in einer Schublade. Eine sprachliche Kommunikation, die den Jungen mit einbeziehen würde, findet nicht statt. Aber es wird eine Sprachtherapeutin engagiert, die ihn auf den Schulbesuch vorbereiten soll. Offensichtlich ohne Erfolg.
Lernbehindert
Denn als er mit sechs Jahren eingeschult wird, versteht er nichts. Er kann ja sowieso nicht antworten, aber die Worte sind ihm gänzlich fremd.
Er versteht die Fragen nicht. Er wird bald als lernbehindert ausgegrenzt. Als ein Lehrer ihn einmal zum Direktor und dieser ihn nach Hause schickt, kommt der Vater mit seinem Jungen in die Schule und schlägt Krach. Er beschließt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er nimmt Urlaub.
Er verlässt Köln und geht mit seinem Sohn nach Wissen an der Sieg, seinem Heimatort. Die Mutter bleibt zu Hause. In Wissen leben die beiden sich erst einmal ein in einen Bauernbetieb mit Wirtschaft und vielen Menschen und Tieren. Dann richtet der Vater eine alte Jägerhütte ein.
Entdeckungen
Täglich gehen die beiden nun in die Hütte und dort beginnt der Vater seinen Unterricht. Er zeigt, was ein Stift auf einem Papier kann (ich frage mich: warum haben die Eltern ihm vorher nicht so etwas gegeben?) dann geht er mit ihm in den Wald und dort beschreibt er die Landschaft und das, was zu sehen ist und zeichnet z.B. einen Baum. Er fordert Hanns-Josef auf, das gleiche zu tun und dann schreibt er den Namen darunter. Und auch das Kind schreibt den Namen. Ich wurde sehr an das „Orbis pictus“ von Comenius erinnert.
Zweihundert Jahre war dieser erste didaktische Entwurf zum Lesen lernen in Gebrauch, sogar Goethe kannte ihn noch.
In dem Buch schildert Ortheil dann noch, wie der Vater jedem dieser gemalten und geschriebenen Blättern seine Anerkennung schenkte und den Sohn dazu brachte, täglich seine Beobachtungen festzuhalten. So wuchs mit der Zeit eine lückenlose Chronik heran, auf die der Autor heute noch zurückgreift.
Sprache
Was aber war mit dem Sprechen? Das Wort wurde mit dem Gegenstand verknüpft, aber es blieb noch stumm bis zu einem zufälligen Augenblick, als der Junge anderen Fußball spielenden Jungen zurief: „Gib mal her!“
Und er war erstaunt, dass die Jungen taten, was er wollte: Das gesprochene Wort bewirkte etwas!
Wie sagt man so schön? Da war das Eis gebrochen.
Auch die Mutter findet ihre Sprache wieder. Und Hanns-Josef geht nach den Ferien wieder in die Schule, diesmal zu einem anderen Lehrer, und wird ein guter Schüler. Aber jeden Tag muss er seine Beobachtungen aufschreiben. Und wenn ihm der Tag dazu keine Zeit lässt, ist er unglücklich. So stellt er sich den Wecker und holt das Versäumte am frühen Morgen vor der Schule nach.
Ich fand die Beschreibung des so späten Spracherwerbs ungemein spannend.
Wir alle machen eine vorsprachliche Zeit durch und man sagt, dass man sich an diese Zeit nur sehr schwer erinnern kann, weil Sprechen und Denken eng miteinander verbunden sind. Ortheil sagt, dass er sich mit Horror an diese vorsprachliche Zeit erinnert als eine leere Zeit, und er muss praktisch jeden Tag schreiben, damit er die Angst vertreibt, dass er wieder in eine sprachlose Phase zurückfallen könnte.
Schreiben und Lesen
Schreiben ist zweifelsohne eine Aneignung der Welt und das Lesen des Geschriebenen ist die Reflexion darüber. Wer schon einmal selbst Geschriebenes wieder gelesen hat, kommt arg ins Grübeln: Habe ich das wirklich geschrieben? An einer Stelle schreibt Ortheil, dass er seinem Gehirn zusieht, wie es lernt. Und ich finde es großartig, dass er uns an diesem Prozess teilhaben lässt.
Was ist denn nun die Aussage dieses Buches? Für mich beschreibt Ortheil, dass ein Kind nur dann den Schritt in die Welt wagt, wenn eine liebevolle Person es an die Hand nimmt. Dazu war die Mutter offensichtlich nicht in der Lage. Sie hat ihn wohl in die Welt des Klavierspiels eingeführt, aber wie ich das verstanden habe, war es wohl eine sehr mechanische Einführung ohne ein Gespräch über Gefühle, womit die Musik ja wohl verbunden ist. Erst die Sprache beziehungsweise die Mit-Teilung öffnet eine Tätigkeit auch für andere Menschen. Der Vater hatte die richtige Art, den Jungen aus seiner Blockierung zu befreien und ihn in die Welt der Kommunikation zu locken. Das fand ich sehr bemerkenswert. In den 50er Jahren gab es wohl noch nicht die Hilfe durch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und auch die Therapiemöglichkeiten für traumatisierte Erwachsene waren noch nicht so vorhanden wie heute.
Es gibt viele Berichte, die beschreiben, dass Schreiben eine therapeutische Wirkung haben kann, und dieser Bericht ist einer davon, aber ein ganz besonderer. Sehr detailliert, sehr spannend. An einer Stelle schreibt Ortheil, dass er seinem Gehirn zuschaut, wie es lernt. Das ist genau das, woran er uns teilhaben lässt. Ich kann dieses Buch sehr empfehlen.