Über das Kaspertheater

von Ute Schäfer

Unser erster Held auf der Theaterbühne – ist er tot? – Nicht mehr da? – Wegpädagogisiert? – Das Krokodil darf er nicht mehr hauen. Die Hexe darf nicht böse sein. Oder nur noch ein ganz kleines bisschen. Wie langweilig! – Kennt ihn überhaupt noch jemand? Den Kasper?

Tri tra trallala

Erstaunt höre ich ihn. Höre sein „Tri tra trallala“, mit dem er das Kommen ankündigt. Aber da ist kein Theater. Nur zwei aufrecht gehaltene Hände, die Daumen aneinandergelegt. Eine Stimme (die Hände gehören zu ihr) lädt ein zu helfen, den Vorhang zu öffnen. Alle sollen kräftig pusten. Noch kräftiger! Und tatsächlich: Der Vorhang geht auf, die Hände gehen auseinander, und da kommt er, der Kasper (klar: der Zeigefinger), fragt, ob auch alle da sind – das Ritual der Eröffnung beginnt. Und während er so ganz im Befragen seiner Zuschauer ist – kommt es, das Krokodil – wie immer von hinten – er sieht es nicht, Daumen und Zeigfinger der anderen Hand schnappen nach ihm. Das Krokodil will ihn fressen. Aber weit gefehlt! Er wehrt sich. Haut um sich: „Das ist zu viel! Ab zum Nil, du Krokodil!“ – (Spricht er sogar in Versen?) – Da kommt – oh Graus! – die Hexe – drei krumm gemachte Finger krächzen: „Ich bin die Hexe Höckerbein“ – (die Finger sind wirklich arg krumm) – „Der Kaper wird verhext sein.“ Doch dieser zeigt keine Furcht. Energisch widersetzt er sich: „Nein, Hexe, nein! Da wird nichts draus! Hau ab! Geh in dein Hexenhaus!“ – Staunende Augen.

Was wir nicht bewundern können, können wir nicht werden.

Die Staunenden hier sind Erwachsene. Sie lernen, wie ohne jedes Requisit, allein mit Sprache, die Bühnenfigur des Kasper wieder lebendig wird. Erinnerungen an erlebte Kasperspiele erwachen in mir. 
War er auch Ihr erster Bühnenheld? Ein immerwährender Lustigmacher, der als erstes sein Publikum in Augenschein nimmt: „Seid ihr auch alle da?“ – „Jaaaaaaaa!“ – Der Stimmenchor sagt deutlich: Die Einladung zum Spiel ist angenommen. Und man folgt ihr mit Lust.

Immer was zum Lachen und immer was zum Ausprobieren.

Kinder lieben ihn, lieben seine Lebenslust, seine Neugier auf die Welt, seine Lust, in ihr herumzukaspern: albern sein, Quatsch machen, alles nur Erdenkliche ausprobieren – ja, es ist erwünscht. Und das Erstaunliche: man lernt von ihm und mit ihm.

Im Grunde machte er das, was jeder Wissenschaftler macht, wenn er forscht. Er experimentiert. Und seine Experimente folgen dem Motto: „Lasst uns das mal durchspielen. Mit allem, was uns einfällt.“ 
So auch die Kinder. Sie sehen im Kaspertheater etwas aus ihrer Welt, das durchgespielt werden kann: Regeln für Verhalten. Eigene Grenzen setzen. Grenzen anderer überschreiten. Neues erkunden Und Kasper bittet um Mithilfe: „Wollt ihr?“ – Klar wollen sie. Da entsteht Interaktion. Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Das Frage-und Antwortspiel – oft nur in der einfachsten Form mit „Ja“ und „Nein“ – ein Dialog mit dem Publikum, klärt, was getan wird. Gespannt schauen sie, was aus dem gemeinsamen Plan wird.

Gefühle beim Publikum

Die Welt des Fühlens, der Gefühle wird geweckt. In vielen Facetten. Da ist Freude. Lebensfreude. Zuneigung zu Gretel, in der Freundschaft zu Seppel. Fürsorge durch die Großmutter, Geborgensein in einem Zuhause. Auch Gefahren gibt es. Aber klar, ihnen entgeht man. Und wie das geht, wird durchgespielt.
Widersacher, Gegner, egal ob Räuber, Hexe, Krokodil oder Teufel – und es gibt noch viele andere, versuchen ihn zum Bösen zu überreden; sie lügen, betrügen, stehlen, wollen ihn sogar verhexen, fressen – kurz: besiegen. Doch das gelingt nie. Kasper siegt immer. Über das Böse und seine Peiniger. Das wird sichtbar, indem er sie kräftig verhaut. – – Verhaute!

Prügel oder Bratpfanne, um Gegner zu vertreiben?


Schlagfertig geht auch anders. Klar: Ein großes Mundwerk hat er! – Und einen noch größeren Reichtum an Ideen.
Schlagfertig werden sie ins Spiel gebracht, scharfsinnig, witzig. Raum für Gefühle ist da. Leises und Zartes findet Ausdruck in seinen Worten.
Sprache ist sein Medium. Durch sie wird er lebendig. Sie führt ihn. Sie lenkt das Spiel. Sie stellt dar, erklärt, öffnet Wege zu Verhaltensweisen anderer. Und sie macht klar, warum andere manchmal etwas Anderes wollen. Und es auch tun! 
Und wie die Sprache das alles kann! – Sie allein! Ohne Prügel oder Bratpfanne. Als Medium ist sie ein Zaubermittel mit Zauberkraft.
Wollen Sie’s mal ausprobieren? Auch wenn Sie kein Kasperl-Theater haben? – Sie brauchen nur zwei Hände. 
Anregungen zum Spielen finden sie im Internet unter: Fingerspiele Kasper.
Oder haben Sie Lust, über eigene Erinnerungen zu schreiben? Ich freue mich über Ihre Mail an: kasperlebt@gmx.de.

Literaturempfehlung

Gaby Mortan, Der Kasper. Ästhetische und pädagogische Aspekte des Kasperltheaters, 2003Anzeige-Feedback

Erweiterte Blickwinkel:
– „Komik zwischen den Kulturen: Unser Kasperl und der tschechische Kasparek.“
Internationale Konferenz Veliko Tarnovo, Oktober 2006, in:
http://lithes.uni-graz.at/downloads/bmk_kasperl_kasparek_opt.pdf
– Kasperl wird instrumentalisiert: der kolonialistische, feldgraue, sozialistische und faschistische Kasperl. Dargestellt in:
Ariane Kaufmann, Pädagogik und Komik des Kasperl um 1930. Am Beispiel von Karl Springenschmids „Siebenmal der Kasperl“. Graz 2009, in:
http://www.takey.com/Thesis_47.pdf