von Inga Engels
Ich habe mich stets darüber gewundert, warum als ein Zeichen des Entwicklungsstandards stets auch die Alphabetisierungsrate herangezogen wird. Und warum man sich Sorgen machen muss, wenn in einem Industriestaat die Zahl der Analphabeten (oder Menschen, die nicht gut schreiben und lesen können) wieder ansteigt. Wenn ich aber genauer darüber nachdenke, so ist die Fähigkeit zu lesen eine Macht.
Anfänge des Lesens
Lesen habe ich schon im Kindergarten gelernt – dank meiner Schwester, die schon in die Schule ging, und meiner Familie, für die das Lesen eine wichtige Freizeitbeschäftigung war. Nach den ersten zögerlichen Versuchen hat mir meine Mutter eine ganze Reihe von Büchern in unserem Regal gezeigt und gesagt – dies sei etwas für mich. Es waren mehr als 20 Bücher – alles Märchenbücher aus verschiedenen Ländern der Welt. So habe ich in meiner Kindheit mit einem Teppich fliegen können und dem Gin Wünsche aussagen. Oder die Bedeutung einzelner Reiskörner kennenlernen. Und dass es auch Kastanien gibt, die man essen kann.
Kinder- und Jugendbücher
Nach den Märchen folgten weitere Kinder- und Jugendbücher. Das Lesen fand ich auch stets spannender als die Filme anzuschauen – die Filme waren für mich eher eine Enttäuschung, da die Personen meist anders aussahen als in meiner Vorstellung, zudem war die Erzählung stets verkürzt oder verdreht. Dies ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum ich „Ronja Räubertochter“ noch nicht als Film gesehen habe.
In einem der Bücher gab es eine längere Geschichte über einen Jungen, der verkauft wurde und mit seinem neuen Herrn stets unterwegs war. Es war ein guter Herr – sie haben ihren Lebensunterhalt durch gemeinsame Auftritte und die daraus entstandenen Spenden der Zuschauer bestritten. An einem Tag meinte der Herr, dass bis zu der nächst größeren Stadt nur noch ein Fußmarsch von halbem Tag geblieben sei. Da wunderte sich der Junge, wie sein Herr dies wüsste, da er doch hier noch nie gewesen sei. In dem Moment hat der Herr verstanden, dass der Junge nicht lesen kann – so konnte er keine Wegweiser und Schilder lesen. Damals habe ich mir versucht vorzustellen, wie wohl ein Leben sein soll, ohne die Möglichkeit das geschriebene Wort zu lesen
Die Vielsprachigkeit der Bücher
Ich habe stets begeistert mit meinem Vater über die verschiedenen Bücher, die ich gelesen hatte, gesprochen. Besonders gerne hatte ich die Bücher, in denen die Handlung in Italien oder Spanien waren – die schönen mediterranen Landschaftsbeschreibungen oder die interessanten Beschreibungen von Speiselokalen wie „Trattoria“. Mein Vater meinte dann stets – eine Sprache, ein Land werde ich wirklich lernen können, wenn ich die Bücher auch wirklich in der Originalsprache lesen werde.
Und dies geschah auch etwas später. Mein erstes deutschsprachiges Buch war eine Geschichte über Barbie. Für mich war es eigentlich eine Qual – schwer zu verstehen, anstrengend zu lesen. Aber ab dann habe ich wirklich angefangen, Bücher auf Deutsch zu lesen. Und da habe ich die Schönheit der Originalsprachen gelernt („Faust“ oder „Blechtrommler“ würde ich nie mehr versuchen in meiner Muttersprache zu lesen).
Irgendwann folgte auch ein Harry Potter Buch auf Englisch, einige Kurzgeschichten auf Italienisch. Selbst in Russisch habe ich versucht einen Krimi zu lesen (und leider versagt).
Lesen ist Wissen
Heutzutage lese ich Bücher in Deutsch und Lettisch. Manchmal nehme ich mir die Zeit und versuche die Nachrichten zudem in Italienisch, Russisch oder Kroatisch zu entziffern. Es ist anstrengend und nimmt viel Zeit in Anspruch. Aber es ist Wissen. Und es ist ein Spiegel der Gesellschaften – wenn ich ein heiß diskutiertes politisches Thema aus vielen Blickwinkeln beleuchten möchte, so komme ich nicht umhin auch international zu lesen.