von Helmke Hennig
Ich schlenderte über den grünen und federnden Rasen. ‚Wage es nie, mir etwas über „grünes Gras“ zu erzählen,‘ zeterte Stevenson einst über den Aufsatz der junge Adelaide Boodle.
„Sag mir, wie das Gras mit Schatten gefleckt wurde. Ich weiß selber daß Gras grün ist, so wie alle anderen Leute in England. Was man lesen will, muss anders und originell gesehen sein. Zeig mir, was deinen Garten besonders macht und worin er sich von tausend anderen Gärten unterscheidet.‘
Geheimnis jedes Romans
In jeder Person steckt ein Roman, nur weiß man oft nicht wie man das aufs Papier bringen kann.
Hier wird das Geheimnis der Strukturen jedes Romans verraten, und zwar am Beispiel von Cornelia Funkes Buch ‚Drachenreiter‘ *.
Voraussetzungen
Jeder Roman ist eine Reise, entweder räumlich, innerlich, seelisch, oder zeitlich (coming of age). Selbst James Joyce in ‚Ulysses‘ lässt seinen Helden, Leopold Bloom, einige Straßen in Dublin entlang gehen.
Die Zutaten
Wichtig sind zwei Hauptdarsteller, besser aber drei. Ohne Hilfe und Unterstützung kommt kein Held allein ans Ziel; dann braucht man noch einen Plan, Wegweiser, Zwischenziele und jede Menge Abenteuer (U=fA; Unglück ist gleich fesselnde Abenteuer).
Eröffnung
Schlechte Nachrichten**
Hier wird das Problem oder der ‚Kreuzweg‘ eingeführt und definiert. Das muss für die Hauptfiguren eine ‚Lebenskrise‘ und ‚Sache auf Leben und Tod‘ sein.
Versammlung im Regen
Eine Expedition wird angekündigt. Die Optionen werden diskutiert und der Endpunkt kristallisiert sich, er wird genau definiert. Man einigt sich auf einen Plan, der etwas kühn ist, aber von den Helden als möglich angesehen wird. Das erste Zwischenziel ist nun klar. Zwei Personen müssen gehen: eine vertrauensvoll und kühn, die andere kritisch und negativ.
Ratschläge und Warnungen
Dann werden Ratschläge gegeben und wer oder was geschehen soll. Für die Helden (und Leser) sind die recht vage. Dazu kommen auch noch kryptische Vorschläge und Warnungen, die erst später im Buch Sinn machen.
Die große Stadt und der kleine Mensch
Am ersten Zwischenziel wird eine dritte Person, Ben, gefunden, die stark zum Erfolg der Expedition beitragen muss. Er hat aber auch seine eigenen Hoffnungen und Probleme.
Die Schiffsratte
Durch Bens Beziehung wird die Schiffsratte, Gilbert, gefunden. Gilbert hat die benötigte Landkarte für den Erfolg der Reise. Er hat auch persönlich Gründe um zu helfen, will aber trotzdem bezahlt werden. Mit der Landkarte können nun endlich die Suche und die Zwischenziele geplant werden.
Drachenfeuer; Warten auf die Dunkelheit
Erstes Abenteuer und die Hauptdarsteller lernen einander besser kennen. Alle Figuren (auch später) haben ihren eigenen Stil und Redeweise. Die Helden haben einen humorvollen Unterton und Schlagfertigkeit.
Verflogen
Uneinigkeit unter der Gruppe führt zu der ersten schwierigen Situation.
Nesselbrand, der Goldene
Einführung des Gegners mit Beschreibung, warum wir ihn hassen müssen. Die schwachen Stellen des Schurken werden ohne Aufmerksamkeit eingeführt.
Der Spion
Einführung des Spiones. Das sichert die Spannung des Wettlaufs zwischen Helden und Schurke.
Der Sturm ; Gefangen; Der Basilisk
Mehrere Abenteuer und Gefahren müssen überwunden werden. Meistens sollen die Abenteuer wie eine Berg-und Talbahn laufen: für jedes Abenteuer, das gut geht, kommt bald das nächste, das schief läuft.
Professor Wiesengrund erzählt
Hilfe zu den nächsten beiden Wegpunkten wird gegeben, sowie ein Vorschlag einer Lösung für das Ziel der Expedition. Gleichzeitig und unbemerkt wird damit auch ein zweiter Faden in die Geschichte eingewoben, der für das Ende wichtig ist.
Fliegenbeins zweiter Bericht
Es wird die Erzählperspektive gewechselt: Die Einzelheiten der Zwischenziele werden dem Schurken verraten. Der Leser kann nun beide Seiten verfolgen und vor Spannung sich die Fingernägel abnagen.
Immer nach Süden
Mehr und mehr Abenteuer werden überstanden, manche sehr haarsträubend. Probleme müssen gelöst werden. Es kommen immer neue Ratschläge, Richtziele und Hilfe.
Besuch für Barnabas Wiesengrund
Der zweite Faden der Reise kommt ab und zu in den Vordergrund und bringt die Reise (Geschichte) weiter.
Mittelspiel
Die Schlucht des Dschinn
Oft werden neue Metaphern benutzt und bekannte, alltägliche Sachen anderes benutzt. Zum Beispiel wohnt der Dschinn in einem alten Auto.
Nesselbrand erfährt alles
Selbstverständlich gibt es jede Menge Rückschläge.
Am Grabmal des Drachenreiters
Langsam und an verschiedenen Zwischenzielen müssen die kryptischen Vorschläge und Warnungen aufgeklärt werden.
Endspiel
Der Saum des Himmels
Das Ziel der Reise wird erreicht, aber der Schurke ist auch da.
Der betrogene Spion
Mit viel List wird der Schurke in eine Lage gebracht, die zum Ende führen kann.
Nesselbrands Ende
Endlich bekommt der Schurke seine verdiente Strafe und man kann sich nun um das eigentliche Ziel der Expedition kümmern.
Die Zwergenbitte; Ein Drache erwacht; Was nun?
Alle losen Enden der Expedition müssen ein gutes Ende finden, mit dem alle höchst zufrieden sind.
Zurück; Gute Nachrichten
Die Heimreise ist einfach und nicht lang. Die Zurückgebliebenen sind überrascht und begeistert vom Erfolg der Helden.
Schachmatt
Jede Romanreise hat:
Trennung – wir verlassen unsere Alltagswelt.
Initiation – wir durchlaufen eine Reihe von Prüfungen.
Rückkehr – wir nehmen, was wir gelernt haben, mit in den Alltag zurück.
Wenn das alles und so einfach ist, warum gibt es dann so viele schlechte Romane?
Die Antwort ist natürlich der erste Paragraph dieses Aufsatzes!
Anmerkungen
*Cornelia Funke, ‚Drachenreiter‘, Dressler, Hamburg 1997, ISBN 3-7915-0454-1
**Die Reihenfolge der einzelnen Kapitel in ‚Drachenreiter‘.
Bild:
https://en.wikipedia.org/wiki/File:Dragon_Riderg
http://www.fembooks.de/bilder/produkte/gross/Cornelia-Funke-Drachenreiter.jpg
Scholastic’s American cover for Dragon Rider
Amazon.ca/book ; search „Dragon Rider“ Scholastic Us ISBN: 0439456959