von Erdmute Dietmann-Beckert
„Gib dem Herrn eine Hand“, „er ist ein Flüchtling.“ (Tillmann Bendikowski. Bildergeschichte.16.09.2013.)
Die oben zitierte Aufforderung bezieht sich auf die im 19. Jahrhundert vertriebenen Göttinger Professoren. Sie waren aus Deutschland nach Deutschland geflohen, wo es damals viele unterschiedliche Hoheitsgebiete mit jeweils anderen Landesherren gab, wo jedoch alle deutsch sprachen.
Heute fliehen Menschen aus anderen Kulturen, anderen Sprachen nach Europa, nach Deutschland.
Sie kommen, weil sie in Gefahr sind und weil sie sich hier Sicherheit erhoffen. Sie hoffen auf ein Leben in Frieden. Doch die Straße ruft: „Es sind zu viele!“ und sie meinen: „Unser Land verkraftet das nicht.“
Die Erstaufnahmeeinrichtung
Gießen ist die älteste und größte Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Hessen. Im Sommer 2015 wuchs die Anzahl der Geflüchteten sehr stark. Deshalb wurden weitere Aufnahmeeinrichtungen in Marburg, Wetzlar, Limburg und Calden bei Kassel geschaffen. Zuletzt kamen täglich 1.370 Personen, die registriert werden mussten. Im Oktober 2015 schlug die Gießener Oberbürgermeisterin Alarm. Sie sah die Stadt überfordert, an der Grenze der Belastbarkeit und forderte Unterstützung vom Land. Ausdrücklich lobte sie die ehrenamtliche Arbeit der freiwilligen Helfer, die nicht fragten, ob es gehe, sondern einfach anpackten, weil Flüchtlinge „ein Anrecht auf eine ordentliche Versorgung haben“.
Seit Ende Dezember bis Anfang Januar 2016 verringerte sich die Zahl der Ankommenden auf durchschnittlich 300 Personen am Tag.
Im jetzt laufenden Jahr soll die Anzahl der Mitarbeiter deutlich erhöht werden und zwar mit Hilfe abgeordneter Mitarbeiter aus anderen Behörden, Pensionären und Freiwilligen. Sie sollen zu einer kürzeren Bearbeitungszeit beitragen.
Registrierung und Unterbringung
Alle Ankommenden werden im Aufnahmezentrum registriert, untersucht und in die Unterkünfte eingewiesen. Weil das in mehren Schritten erfolgt, müssen die Menschen mehrmals in das Aufnahmezentrum gebracht werden.
Sowohl in den Unterkünften als auch im Zentrum können sie sich selbst versorgen. Es gibt Küchen, wo sie das kochen können, was sie kennen und selbst eingekauft haben. Sie erhalten einen bestimmten Geldbetrag und für den Einkauf ein Heft mit Abbildungen der gängigen Lebensmittel oder anderer Produkte des täglichen Bedarfs, wie Seife, Schreibutensilien und Ähnliches.
Viele Helfer und Ehrenamtliche leisten Außerordentliches durch ihren Einsatz. Die Helfer begleiten die Menschen zu Behörden und Ämtern.
Das Aufnahmezentrum ist für Besucher und Helfer nicht zugänglich. Meine Freundin und ich dürfen vor der Schranke mit einem Beamten sprechen. Er trägt eine weiß-rote Weste und ist Herr über die Schranke. Er erlaubt uns, Fotos ohne Personen zu machen und zeigt uns das Aufnahmegebäude vom Roten Kreuz.
Das Rote Kreuz
Unmittelbar vor der Aufnahmeeinrichtung hat das Rote Kreuz in einem ehemaligen Lagerhaus Empfangsräume und einen Speiseraum eingerichtet. Karo, eine der leitenden Helferinnen, spricht mit uns. Sie zeigt uns den großen Speiseraum. Wir sehen einen Flüchtling, der gerade die Tische abwischt .In einem anderen Raum sind Nahrungsmittelspenden gelagert. Frisches Brot und Speisen liefert die türkische Bäckerei aus Gießen.
In einem der Nebenräume ist ein Kleider- und Schuhlager eingerichtet. Es darf nur vom zuständigen Personal betreten werden. Aus hygienischen Gründen dürfen Kleidungsstücke nicht anprobiert werden, da sie sonst entsorgt werden müssen. Die Helferinnen zeigen das gewünschte Teil. Die Bittsteller können zustimmen oder ablehnen. Wenn jemand mehrmals versucht, um Schuhe nachzufragen, kann er damit rechnen, dass er erkannt wird und nichts erhält. Wie uns Karo erzählt, ist es schon vorgekommen, dass dem wachsamen Auge einem der Helfer auf dem Flohmarkt ein gespendetes Teil begegnet ist. Wer es dort angeboten hat, ist schnell ausgemacht.
Ein Schutzraum in der Halle
Abgetrennt vom großen Speiseraum sehen wir hinter einer Wand einen kleineren Raum. Er ist mit Tischen, Stühlen und Sesseln wohnlich eingerichtet und darf nur von Frauen und Kindern betreten werden. Auch männliche Helfer und Besucher haben keinen Zutritt. Die Frauen sollen sich hier mit ihren Kindern ungestört aufhalten können, auch außerhalb der Essenszeiten. An der Wand sehen wir ein Regal mit Literatur in arabischer und deutscher Sprache.
Für Babys steht ein Wickeltisch zur Verfügung. Den schönen Laminatfußboden hat ein Flüchtling verlegt.
Das Freiwilligen- Zentrum
Mitbürger, die ein eigenes soziales Projekt einrichten wollen, finden in diesem Zentrum Hilfe. Im Frühjahr 2015 engagierten sich drei Studenten für Flüchtlinge und boten Deutschunterricht an. Daraus entstand der Verein „an.ge.kommen.de“. In nur wenigen Wochen entstand ein Netzwerk mit über 80 Helfern. Sie begleiten die Migranten zu Behörden, zur Post oder Polizei..
Der Verein organisiert auch Ausflüge, Schwimmbadbesuche, Ausstellungen oder Besichtigungen. Das gemeinsame Kochen oder der Sport sind sehr beliebt.
Für Jugendliche unter 14 Jahren, die ohne Angehörige in Gießen leben, ist eine intensivere Betreuung organisiert. Sie wohnen auch nicht in den Gemeinschaftsunterkünften.
Sprachunterricht
Im Freiwilligen-Zentrum werden von Montag bis Freitag Alphabetisierungskurse und Unterricht in der deutschen Sprache angeboten. Die Teilnahme an den Sprachkursen der Volkshochschule ist erst möglich, wenn die Flüchtlinge anerkannt sind.
Pensionierte Lehrer und ehrenamtlich arbeitende Studenten leiten den Unterricht. Entsprechend der Vorbildung der „Schüler“ wird differenziert, teilweise wird im Einzelunterricht gelernt.
In Gießen bieten neben dem Freiwilligen-Zentrum die Freie evangelische Gemeinde und der Verein für Geflüchtete und Migrierte ebenfalls sofort Sprach- und Alphabetisierungskurse an.
Nicht wenige Flüchtlinge verfügen über Englischkenntnisse. Darauf kann aufgebaut werden.
Andere haben mitunter nur eine geringe Schulbildung oder sie sind Analphabeten. Für sie haben Verlage besondere Hilfsmittel entwickelt wie Tafeln mit Bildern und Buchstaben. Diese werden im Zentrum benutzt.
Selbständig werden
Viele Flüchtlinge wollen sich selbst einbringen und möglichst schnell eine richtige Arbeit finden, die sie später nutzen können, zum Beispiel in der Holzverarbeitung. Dafür müssen sie als Flüchtling anerkannt sein. Bis dahin reinigen sie freiwillig ihre Räume oder die Straße vor ihrer Unterkunft.
Nicht wenigen Menschen, die gekommen sind, müssen auch einfache Verhaltensregeln vermittelt werden. Wenn sie zum Beispiel hier Toiletten kennen lernen, deren Benutzung ihnen fremd ist, brauchen sie eine Unterrichtung.
Das Verhalten im öffentlichen Raum müssen die Flüchtlinge in der Praxis lernen.
Damit die jungen Leute selbst in der Stadt einkaufen können, erhalten sie Kärtchen mit den Abbildungen unterschiedlicher Gegenstände wie Äpfel, Bleistift oder Getränke.
Für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel gibt es Busfahrkarten. Im Sommer letzten Jahres gab es in der Bevölkerung Ärger, weil sich die Flüchtlinge in den Bussen schlecht benahmen. Inzwischen ist nichts mehr zu hören.
Die freiwilligen Helfer begleiten die Flüchtlinge zu Behörden und Ämtern, wo sie dolmetschen müssen.
Das „Café Hope“.
Die Freie Evangelische Gemeinde in Gießen betrachtet die Einrichtung des Café Hope als ihr wichtigstes Projekt in der Ausländer- und Flüchtlingsarbeit. Von Montag bis Donnerstag werden von 17h bis 18:30h Deutschkurse für Flüchtlinge aus den Erstaufnahme-Zentren angeboten.
Im Anschluss daran gibt es Kaffee, Tee, Gebäck und Pizza. Die Flüchtlinge haben hier Gelegenheit, sich über Fragen des Lebens auszutauschen. In Einzelgesprächen ist es möglich, um Beratung und Fürbitte zu bitten.
Die Besucher des Cafés können Informationen zum Asylrecht erhalten, wenn sie es wünschen.
Unter den Flüchtlingen sind auch Leute, die im christlichen Glauben Unterricht wünschen. Dafür wird hier eine Möglichkeit geboten.
Finanzierung
Viele nicht staatliche Einrichtungen wie auch die Freie Evangelische Gemeinde finanzieren sich durch Spenden und Beiträge Ein beträchtlicher Anteil der Flüchtlingshilfe geschieht durch ehrenamtliche Arbeit. Wahrscheinlich wäre die Arbeit gar nicht zu leisten ohne diese vielen Helfer. Daneben gibt es Finanzierungshilfen von der Stadt.
Wie ich im Freiwilligen Zentrum höre, sind die Flüchtlinge sehr dankbar für die Hilfen und die Unterstützung, die sie erfahren. Jetzt am Anfang des Jahres kommen weniger Menschen, die um Asyl bitten. Es wird aber damit gerechnet, dass sich das ändert, sobald es wieder wärmer wird.
Für die Arbeit der Mentoren gibt es mentale Unterstützung. Sie treffen sich von Zeit zu Zeit und tauschen sich aus. Die gemeinsamen Aktivitäten planen sie selbst.
Schlussgedanken
Zahlreiche private Initiativen wurden ins Leben gerufen. Ich habe hier nur einige Aktivitäten aus Gießen vorgestellt, das Rote Kreuz, die Freie Evangelische Gemeinde, die Initiative „an.ge.kommen“.
Leider gibt es auch Gegner der Flüchtlingshilfe, und es scheint, dass wir uns noch lange mit dem Thema Asylbewerber beschäftigen müssen. Vor einiger Zeit gab es Gerüchte über Übergriffe der Flüchtlinge in Gießen. Nach Überprüfung haben sie sich nicht bestätigt. Allerdings waren in der Umgebung von Gießen Brandstifter an der Arbeit.
Das sind, denke und hoffe ich, Ausnahmen. Der größere Teil der Bevölkerung zeigt sich offen und hilfsbereit. Gießen hat eine lange Tradition, weil es hier schon vor der Flüchtlingswelle eine Aufnahmeeinrichtung gab. Zuerst kamen Kriegsheimkehrer, später die Republikflüchtlinge.
Außerdem sind die Einwohner an anders aussehende und anders redende Studenten gewöhnt.
Literatur und Links
Stadtwerkelahn Kundenmagazin der Stadtwerke Giessen. Engagement entwickeln von Patricia Ortmann, Geschäftsführerin. Gießen, 04.2015.
Hessisches Ministerium für Soziales und Integration. Wegweiser für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe. Wiesbaden 2015.
Zeig mal. Ein handliches Bilderheft als Kommunikationshilfe. München 2015.
https://fluechtlinge.hessen.de/pressemitteilungen/wir-sind-gut-aufgestellt-gestartet-2016.
https://fluechtlinge.hessen.de/pressemitteilungen/%E2%80%9Epeople-me%E2%80%9C-bringt-hilfegesuche-und-helfer-zusammen Januar 2016.
https://fluechtlinge.hessen.de/unterkuenfte/hessische-erstaufnahmeeinrichtung-giessen-heae Januar 2016.
https://fluechtlinge.hessen.de/flucht-asyl/whttps://fluechtlinge.hessen.de/flucht-asyl/wichtig-zu-wissen/haeufig-gestellte-fragenichtig-zu-wissen/haeufig-gestellte-fragen Januar 2016.
http://www.giessener-anzeiger.de/lokales/kreis-giessen/landkreis/lollars-buergermeister-bernd-wieczorek-warnt-vor-grenzen-der-aufnahmefaehigkeit_16572270.htm Januar 2016.
c downloads/Entwicklung%20der%20Fl%C3%BCchtlingszahlen%20in%20Hessen_11.01.2016.pdf
http://www.fnp.de/rhein-main/Fluechtlinge-Stadt-Giessen-ruft-um-Hilfe;art801,1634744 Januar 2016.
https://fluechtlinge.hessen.de/unterkuenfte/hessische-erstaufnahmeeinrichtung-giessen-heae Januar 2016.
http://hessenschau.de/tv-sendung/video-2724~_story-zehntausend-fluechtlinge-rp-giessen-100.html
http://www.giessener-anzeiger.de/lokales/stadt-giessen/nachrichten-giessen/erstaufnahmestelle-fuer-fluechtlinge-vor-einem-jahr-arbeiteten-in-giessen-weniger-als-100-mitarbeiter-kuenftig-sind-es-900_16537776.htm Januar 2016.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-und-einwanderer-die-wichtigsten-fakten-a-1030320.html#sponfakt=2 Januar 2016.
www.freiwillig-sozial-aktiv-giessen.de.
Zitat.http://www.dw.com/de/bildergeschichten-gib-dem-herrn-eine-hand/a-17090894 Januar 2016.