Abfahrt: Königshütte 18.00 Uhr

von Erna Subklew

Es war der 19.1.1945. An diesem Tag hatte mein Vater Geburtstag. Wir wollten zwar nicht groß feiern, denn die Russen bewegten sich schon stark auf Königshütte zu, aber ein Familienessen sollte es dennoch geben. Die Rouladen waren schon zubereitet.

Unser Wohnort

Königshütte gehörte bis 1920 zu Preußen und kam nach der Abstimmung, trotz überwiegender Votierung für Deutschland, zu Polen. 1939, nach dem Krieg gegen Polen, wurden die beiden Teile Oberschlesiens, wieder vereint.
Wie gewöhnlich ging ich auch an diesem Tage in die Schule. Ich war Lehrerin und unterrichtete in dem Jahr ein zweites Schuljahr. Beim Hinaufgehen in das Klassenzimmer begegnete ich im Treppenhaus dem Schulleiter. Er sah mich mit erstaunten Augen an: „Was wollen Sie denn noch hier?“ fragte er. „Nehmen Sie ihr Kind und verlassen Sie die Stadt. Selbst die deutsche Polizei ist nicht mehr da“.
Der Schulleiter stammte im Gegensatz zu mir aus Königshütte, während ich im ungefähr 20 km entfernten Hindenburg geboren war.
Ich lief zu meinen Eltern, um mit ihnen zu beraten, was zu tun sei. Schon einen Tag zuvor hatten meine Mutter und meine Schwiegermutter versucht, mit dem vier Monate alten Enkel nach Niederschlesien zu fahren. Dort war die Wohnung meiner Schwiegermutter. Nur – es ging kein Zug mehr nach Breslau. Es fuhr überhaupt kein Zug mehr an diesem Tag vom Königshütter Bahnhof.

Neuer Versuch

Nach Rücksprache mit meinen Eltern beschlossen die beiden Großmütter und ich mit dem Winzling im Kinderwagen und einem Koffer, sich in Richtung Bahnhof in Bewegung zu setzen, um es noch einmal zu versuchen. Tatsächlich stand ein Zug zur Abfahrt bereit und er sollte auch nach Breslau fahren.
Aber Stunde um Stunde warteten wir auf die Abfahrt und waren schon ganz nervös. Sollte ich aussteigen und zurückgehen, um mehr Gepäck zu holen? Sollte ich warten? Wird der Zug nun fahren oder doch nicht? Dann hatte ich aber auch nicht den Mut, noch einmal nach Hause zu gehen und vielleicht weiteres Gepäck zu holen. Es war immerhin ein Fußweg von einer Stunde. Die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren nicht mehr.
Endlich – gegen 18.00 fuhr der Zug los. Da dachte ich noch, er führe nach Breslau. – Aber nach einer die ganze Nacht dauernden Bahnfahrt hielt der Zug in Neustadt, auf der anderen Oderseite, aber immer noch in Oberschlesien.
Nach Breslau kamen wir nie mehr. Und das war gut so. In dieser Nacht waren die Russen bei Breslau durchgebrochen.

In einem Dorf an der Oder

Der Winter des Jahres 1945 war außerordentlich kalt. Wir waren bei einem Schuster des Dorfes untergekommen und bewohnten das Schlafzimmer der Familie, die beiden Großmütter, ich und das Baby. Den ganzen Tag über wurden wir nicht richtig warm und es half gar nicht, sich mit den dicken Federbetten zuzudecken, denn ehe man die erwärmt hatte, war es beinahe Morgen und Zeit zum Aufstehen.
Zehn Tage hielten wir uns dort auf, ehe eines Nachts die Lautsprecher alle im Dorf untergekommenen Flüchtlinge aufrief, sich bereit zu halten – in einer Stunde ginge es nach Neustadt.
Wir hatten kein großes Gepäck, wegen des Säuglings im Kinderwagen. Dafür aber hatten wir gefrorene Wäsche, die tags zuvor gewaschen worden war.

Man sprach von -15 Grad als wir losmarschierten. Wir mochten so ungefähr zehn Kilometer gelaufen sein, ehe wir auf dem Neustädter Bahnhof ankamen. Unterwegs auf dem Acker liefen Insassen des Kz Auschwitz in ihren gestreiften Drillichanzügen und mit Holzpantinen. Wohin sie gingen und wie viele von ihnen an ihr Ziel gelangten, blieb unbekannt.
Gegen Abend wurden wir in die Holzklasse eines Eisenbahnzuges eingeladen und dieser setzte sich langsam in Bewegung. Wenigstens hatten wir jetzt in der Dunkelheit ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Sitzen. Der Waggon wurde für die nächsten vier Tage unser Zuhause.

Im Zug

Tags über stand der Zug meistens an einem etwas verdeckten Ort auf den Gleisen, in der Nacht fuhr er. Durch die eisige Kälte waren die Toiletten in Kürze zugefroren und alles, was eigentlich auf den Schienen landen sollte, floss in den Wagen. Vielleicht war es in dem Falle sogar von Vorteil, dass es kalt war, denn es wurde mit Stroh überdeckt und so war ein Verbleiben in den Wagen möglich.
Essen und Trinken gab es nur, wenn der Zug zufällig in der Nähe eines Ortes abgestellt wurde oder ein Wehrmachtstransport auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig angehalten werden konnte. Darunter litten die Säuglinge sehr und auch die alten Menschen, die durch die geringe Flüssigkeitszufuhr dehydriert waren und versuchten während der Fahrt auszusteigen.
Die letzte Nacht fuhren wir an hell erleuchteten Gebäuden vorbei. Wie es sich später herausstellte: das Kz Mauthausen.
Am nächsten Tag wurden wir dann endlich in Bad Schallerbach, einem zum Rot-Kreuz deklarierten Kurort, der nur Lazarette beherbergte, ausgeladen.

Bad Schallerbach

Dieser Ort wurde zunächst unser Zuhause. Wir wohnten sogar einigermaßen bequem, wenn auch mit einer Mutter und ihrem zweijährigen Sohn, die uns bis dahin unbekannt waren, in einem Zimmer. Dies und die zwei Großmütter gaben den Ausschlag, mich möglichst schnell beim Schulamt Grieskirchen zu melden, um wieder arbeiten zu können. Das klappte auf Anhieb. Ich unterrichtete nun drei Tage in der Woche und ging drei Tage ins Büro ins Krankenhaus. So lange bis die Amerikaner kamen.
Jetzt bekamen wir keine Verpflegung mehr von der Reichsversicherungsanstalt, sondern mussten uns unser Essen selber kochen. So dreißig Frauen um einen Herd, ohne ausreichende Töpfe, das war nicht gerade einfach.
Aus dem Schuldienst wurde ich jetzt als nicht erwünschte Ausländerin entlassen. Man sprach sogar von einer Ausweisung aller „Reichsdeutschen“ aus Österreich. Nach einem nochmaligen Quartierwechsel in eine weit einfachere Unterkunft, war es dann so weit.

Migration nach Deutschland

Anfang Oktober wurde ein Transport aller im Kreis Grieskirchen lebenden Deutschen und anderen Flüchtlingen zusammengestellt. Die hier lebenden Leute aus der Batschka, der Bukowina und anderen ehemals rumänischen Gebieten durften immerhin wählen, ob sie mitkommen oder in Schallerbach bleiben wollten.
Als das erste Tausend voll war, wurden wir in Viehwaggons verladen, ich kann nicht einmal sagen, ob es Stroh gab. Es ging langsam voran und bei einem Halt, wir waren in der Gegend der Stadt Hof in Franken, machte das Gerücht die Runde, man wolle uns in die Sowjetische Zone hinüberschicken. Daraufhin wurde eine Delegation an den Leiter des Transportes geschickt, dass wir dann alle den Zug verlassen und uns zu Fuß weiter in die Amerikanische Zone begeben würden. Das dauerte fast eine Woche, bis derjenige, der dafür zuständig war, die Entscheidung traf, dass wir in der Amerikanischen Zone bleiben durften. Daraufhin wurden wir nach Bad Brückenau gefahren.

Inzwischen war es bereits November geworden und in der Rhön war es kalt. Innerhalb weniger Wochen mussten wir viermal unsere Unterkunft wechseln. Sie war einmal größer, einmal kleiner, aber immer mussten sechs Menschen in einem Raum leben. Im Frühjahr kamen wir endlich ins ehemalige Arbeitsdienstlager Einraffshof, und die Verwaltung und anfallende Arbeit wurde in die Hände der Flüchtlinge selber gelegt, angefangen von der Verwaltung bis über das Kochen und Saubermachen.
Viermal wechselten wir unsere Bezeichnung: Aus Flüchtlingen wurden in Österreich Scheißpreißen, in Bayern die Zugeroasten, in Frankfurt die Eingeplackten.
Damals wussten wir noch nicht, dass auch der Einraffshof eine Zwischenstation war. Genau wie es schon davor eine Wanderung gegeben hatte, nämlich aus der Türkei nach Deutschland. Und sieben Jahre später gab es auch noch einmal eine, als der Truppenübungsplatz, auf dem wir unser neues Zuhause gefunden hatten, wieder abgesiedelt wurde.