Von Roswitha Ludwig
Aus unserer Zeitgebundenheit blicken wir in die Geschichte und wagen Prognosen. Frauenschicksale in früherer Zeit zu betrachten, macht Sinn im Blick auf die Lebensverhältnisse. Nur so können wir beurteilen, was möglich, außergewöhnlich und nicht realisierbar war.
Bildungschancen gestern und heute
Wenn heute von Bildungschancen gesprochen wird, hat man nicht unbedingt das Geschlecht im Blick sondern das Milieu, das über diese entscheidet. Doch im 20. Jahrhundert unterschieden sich oft die Chancen in einer Familie nach dem Geschlecht. Oft studierten die Söhne oder erlernten einen Beruf. Für die Mädchen hatten die Eltern in erster Linie eine Vorbereitung auf die Hausfrauentätigkeit im Blick. Zu bevorzugten Berufssparten gehörten erzieherische und pflegerische Berufe. Vielfach endete die Berufstätigkeit mit der Heirat. Das Fräulein wurde dann Frau. Dass man den Mädchen vielfach naturwissenschaftliches – technisches oder auch künstlerisches Tun in der Berufspraxis nicht zutraute, muss erwähnt werden. Doch in Notsituationen stellte manche Frau ihren Mann, z.B. als Kriegswirtschaft herrschte und Trümmer beseitigt werden mussten. So manche Alltagsheldin bleibt unbeachtet. Ihre Leistung begreift nur, wer sich hineinversetzt in die damaligen Gegebenheiten. Exemplarisch soll ein Frauenschicksal vorgestellt werden.
Steckbrief: Herkunft – Kindheit
Anna Luise Sophie R. lebte von 1915 bis 2014; ihr Jahrhundert war also das zwanzigste. Sie entstammte einer Handwerkerfamilie und erlernte nie einen Beruf. Der Vater war selbstständiger Schmiedemeister. Die Mutter hatte in der Schweiz das Kochen gelernt. Sie wuchs in einem süddeutschen Dorf auf, das heute in die nächste Stadt eingemeindet ist. Bei ihrer Geburt trug ihr Vater noch „das Ehrenkleid des Kaisers“. Sie folgte einem drei Jahre älteren Bruder, eine Schwester kam 1920 zur Welt.
In der dörflichen Umgebung lebten viele Verwandte. Die Welt war überschaubar. Doch zunächst kehrte für sie der Vater wie ein Fremder aus dem Krieg heim. Da er sein Handwerk selbständig ausübte, musste Anna schon früh Rechnungen austragen und auch an die Bezahlung erinnern. Sie hatte ein kleineres Fahrrad, wahrscheinlich brauchte sie es für die genannte Mithilfe.
Am Ort besuchte sie acht Jahre lang die Volksschule. Die Freude am Lernen glaubte man ihr, denn sie blieb zeitlebens wissbegierig und verfügte über einen großen Schatz auswendig gelernter Gedichte und Lieder.
Hauswirtschaftliche Ausbildung
Anna wurde konfirmiert im Jahr der Weltwirtschaftskrise 1929. Nach der Volkschule besuchte sie die nächstgelegene Haushaltungsschule. Wie viele Mädchen damals half sie in der eigenen Hauswirtschaft mit. Dazu gehörten ein Garten und eine kleine Landwirtschaft, die Selbstversorgung ermöglichten. Viele Jahre muss sie auch mit dem Nähen und Sticken ihrer Wäscheaussteuer beschäftigt gewesen sein. Ihre Mutter vermittelte den Töchtern eine gehobene Kochkultur und die Freude Gäste zu bewirten. Ohne weitere Ausbildung besaß Anna umfassende Kenntnisse in der Haushaltsführung. Dazu gehörte in jener Zeit der Selbstversorgung auch das Einkochen von Obst und Gemüse. Ihre besondere Vorliebe galt den Handarbeiten und vor allem dem Nähen. Später wurde sie als Hobbyschneiderin bezeichnet. Einige Monate arbeitete sie in einem fremden Haushalt als Hausmädchen.
Familiengründung
Anna heiratete am 08.02.1937, am 19.02. wurde das erste Kind geboren, ein Sohn. Was heute kaum beachtet wird, hatte in der damaligen Zeit fast Skandalcharakter. Wie kam es, dass erst so kurz vor der Niederkunft geheiratet wurde?
Der Arbeitgeber erlaubte dem Ernährer erst eine Heirat mit 25 Jahren, um Versorgungsansprüche niedrig zu halten. So handelte der Staat als Dienstherr der Soldaten. Die Hochzeit sollte unbedingt vor dem Geburtstermin des Kindes stattfinden, damit keine Namensänderung erforderlich würde. Ein unehelich geborenes Kind trug zwingend den Namen der Mutter. Der Ehemann und Vater wurde acht Wochen später 25 Jahre, die Mutter war 22 Jahre alt.
Dem Antrag auf Sondererlaubnis zu heiraten, war der Nachweis von Barvermögen der Braut beigefügt. Dieser sollte belegen, dass die Versorgung zunächst sichergestellt war. Geheiratet wurde nicht am Wohnort der Braut. Im schwarzen Kleid und ohne Schleier trat die Braut vor den Altar. Trotz des schwierigen Starts folgte eine glückliche über 50 Jahre dauernde Ehe.
Erste Ehejahre und Kriegsalltag
Zu Kriegsbeginn war Anna 24 Jahre alt und am Ende 30. Ihr zweites Kind, eine Tochter, brachte sie 1945 zur Welt. Bald nach Kriegsausbruch musste der Ehemann an die Front. Die jungen Eheleute ersehnten den Urlaub und wechselten wie viele Briefe. Sie kamen aus dem Westen, sie kamen aus dem Osten. Diese Sätze las sie 1943 in einem Brief ihres Mannes:
„Wann werden wir wieder diese glücklichen Zeiten (Urlaub) erleben dürfen? Heute weiß ich auch, dass alles andere an Vergnügen, Reichtum und Macht nichts ist gegen ein glückliches Familienleben und ein schönes Heim.“
Zum Leben im Kriegsalltag gehörten in der Heimat Bombenangriffe und Luftschutzbunker. Kriegswirtschaftlich beschäftigt wurde sie 1944 bei einer Versicherungsgesellschaft. Sie war erleichtert, dass ihr die Munitionsfabrik erspart blieb.
Nach schweren Verwundungen endete der Fronteinsatz des Ehemannes. Er wurde an eine militärische Dienststelle versetzt. Die Familie zog nach Oberschwaben. Der Wohnort Biberach wurde einen Tag nach der Geburt der Tochter schwer bombardiert.
Leben als Bäuerin
Weil ihr Mann der einzig überlebende Sohn seiner Familie war, fühlte er sich verpflichtet, den landwirtschaftlichen Familienbetrieb weiterzuführen. Bäuerin zu sein, hatte sie sich nie gewünscht. Doch diese Frauengeneration nahm auf sich, was sein musste. Eifrig und tüchtig war sie auch mit diesen Aufgaben in Haus, Hof, Feld, Garten und Schweinestall, den Kuhstall mied sie.
In den 50er Jahren vollzog sich in der Landwirtschaft der große Umschwung zur Technisierung im Stall und bei der Feldarbeit. Diese Umbruchszeit forderte unternehmerische Entscheidungen und hohen Einsatz. Zum Familienbetrieb gehörten wirtschaftlich auch die Altbauern. Sie halfen so lange sie dazu in der Lage waren mit, mussten auch versorgt und wenn erforderlich auch gepflegt werden. Eine Bauernrente wurde erst 1957 eingeführt.
Hausfrau mit vielfältigen Interessen
Nach 15 Jahren konnte der Ehemann die Landwirtschaft dem Sohn übergeben und an seine frühere Tätigkeit anknüpfen. Das ermöglichte einen Umzug. Anna war nun 45 Jahre alt. Gefragt war ihr Einsatz am früheren Wohnort weiterhin als im Haushalt aktive Oma. Ihre eigene Haushaltsführung in der Stadt glich derjenigen im Dorf. Selbsthergestelltes wurde allem Fertigen vorgezogen. Die Tiefkühltechnik ermöglichte Bevorratung. Etwas selber zu machen, das war auch ihr Prinzip bei der Kleidung. Als Hobbyschneiderin stellte sie ihre eigene Kleidung her. Auch Angehörige zogen die von ihr genähte Kleidung der fertig gekauften vor. Ihre vielfältigen Fähigkeiten nutzten der Familie.
An ihrem 50. Geburtstag bezog die Familie ein Eigenheim (Zweifamilienhaus). Nun hatte sie wieder einen Hausgarten, der auch für die Ernährung genutzt wurde. Wahrscheinlich entsprach ihr die Lebensform dieser Zeit besonders. Sie verwirklichte sich als Hausfrau, bewirtete öfter Gäste und pflegte ihr Hobby. Gerne verbrachte sie Zeit mit den Enkelkindern bei wechselseitigen Besuchen.
Ehefrau und Witwe
Von Emanzipation sprach sie nicht. Sie fühlte sich emanzipiert, weil sie sich im Rahmen der Möglichkeiten verwirklichte. Große Entscheidungen wurden unter den Eheleuten diskutiert. Doch das größere Gewicht hatte die Ansicht des Ehemannes. 54 Ehejahre waren dem Paar vergönnt. 1987 konnten sie ihre goldene Hochzeit feiern.
Sie haben in wechselvollen und schwierigen Zeiten gelebt, nie voneinander gelassen und sind sich beigestanden. Eine gute und glückliche Ehe haben sie geführt und ihren Nachkommen vorgelebt. Der größte Einschnitt in ihrem Leben war der Tod des Ehemannes, als sie 76 Jahre alt war.
Da sie keinen Führerschein hatte, wurde das Reisen etwas umständlicher. Um die Kinder zu besuchen, nutzte sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Gerne nahm sie auch an Seniorenfreizeiten teil. Elf Jahre lebte sie als Witwe noch in ihrem Haus. Eine demenzielle Erkrankung ließ ihr auch die vertraute Umgebung fremd werden und machte eine Unterbringung in einem Heim erforderlich. Im Jahr 2014 starb Anna M. eine Woche vor ihrem 99. Geburtstag.
Schlussbemerkung
Anna M. lebte ein erfülltes familienbezogenes Frauenleben, wie es heute kaum mehr vorstellbar ist. Sie hat stets alle erforderlichen Aufgaben angepackt. Ausbrüche wagte sie nicht. Aber ist es nicht auch Lebenskunst, sich in einem vorhandenen Rahmen zu verwirklichen? Familiär war von dieser Frauengengeneration vieles zu leisten, was heute auch gesellschaftliche Aufgabe ist in den Bereichen Kindererziehung und Altenversorgung. Einen Rentenanspruch erwarb sich Anna nie. Ganz stolz, weil sie selber Antragstellerin war, beantragte sie 1986 das sogenannte Trümmerfrauengeld für ihre zwei Kinder, ihre „Mütterleinrente“. Diese betrug 2013 pro Kind 28,14 € im Monat.
Schulbildung und Berufswahl betrachtete sie für ihre Kinder und vor allem auch für die Tochter als beste Ausstattung für eine unabhängige Zukunft.