Meine Fahrt mit dem Orient-Express 1932

von Erna Subklew

Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Eisenbahnprojekte. Nachdem man die Angst vor dem Ungetüm Lokomotive überwunden und gemerkt hatte, wie viel schneller man größere Strecken mit der Bahn überwinden konnte, fing jedes Land an, sein Schienennetz zu bauen.

Der Abschied

Nun war es also so weit. Wir, das waren meine Mutter, mein Bruder und ich, fuhren nach Istanbul. Die letzten Wochen waren sehr aufregend. Meine Mutter war die ganze Zeit am Zusammenräumen und Packen und dann kam ein großer Lastwagen und holte unsere Sachen ab. Meine Mutter sagte, die würden jetzt auf ein großes Schiff geladen und kämen nach Istanbul, unserem neuen Wohnort. Wir hatten nur noch einige Koffer mit Kleidern, die wir zu meiner Großmutter mitnahmen, wo wir die letzte Woche wohnten. Und jetzt fuhren wir mit meinem Onkel nach Oderberg zu dem Bahnhof, wo der Zug hielt, der uns zu meinem Vater bringen sollte.
Was für eine aufregende Sache! Schon die Fahrt bis Oderberg war für mich, die ich bisher nur ein- oder zweimal mit der Eisenbahn bis Oppeln gefahren war, ein Ereignis. Und weil es bis Oderberg weit war, brachte uns von der ganzen Familie nur ein Onkel zum Zug.
Beim Warten auf dessen Ankunft rief von dem gegenüber liegenden Bahnsteig jemand unseren Namen. Es war ein anderer Onkel, der Bruder meines Vaters, der als Lokomotivführer gerade mit seinem Zug in den Bahnhof einfuhr. Wenn das nicht Glück bedeutete.

Der Orient-Express

Dann kam unser Zug. Mein Onkel brachte uns ins Abteil. Es musste schnell gehen, denn es gab nur einen kurzen Halt. Außer uns stieg weder jemand ein, noch aus. Aus heutiger Sicht war sicherlich alles eher gemächlich, aber damals war es aufregend. Es war gut, dass meine Mutter schon weit gereist war, meine Eltern hatten einige Zeit in Belgien gelebt.
Das Abteil war für drei Tage unsere Wohnung. Wahrscheinlich sagte man damals eher Coupé als Abteil. In meiner Erinnerung sieht es nicht anders aus als die heutigen Abteile, allerdings gab es kein Plastik, sondern schönes Holz. Und dann hatten wir einen eigenen Waschraum mit Toilette! Jeden Abend und Morgen kam der Kondukteur, schlug die Betten auf oder klappte sie zusammen und machte ein Sofa daraus.
Wie das Abendbrot und das Frühstück verliefen, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber zu Mittag ging man in den Speisewagen, wo man an kleinen Tischen sein Mittagsmahl serviert bekam. Hatten die Kellner gar weiße Handschuhe an? Möglich wäre es schon, aber erinnern kann ich mich nicht daran. Dafür blieb mir aber ein Nachtisch im Gedächtnis, der noch in der Erinnerung köstlich schmeckt.

Die Geschichte des Orient-Express

Wenn man von der Geschichte des Orient-Express spricht, dann ist nicht eine einzige Strecke gemeint, sondern es handelt sich um ein Netz von Eisenbahnlinien, die das Ziel hatten, den Balkan mit Europa zu verbinden.
Das Osmanische Reich hatte großes Interesse daran, den europäischen Teil der Türkei, der flächenmäßig weit größer war als heute, verkehrsmäßig an das europäische Eisenbahnnetz zu koppeln.1869 begann Baron Maurice de Hirsch durch die Gründung der Gesellschaft Compagnie des Chemins des Fer Orientaux, also der Orientbahn, den Plan von Saloniki nach Konstantinopel zu verwirklichen.
1878 beim Berliner Kongress mussten Bulgarien, damals noch zum Osmanischen Reich gehörig, Rumänien und Serbien als Gegenleistung für ihre Selbständigkeit, die dazu nötigen Schienenstrecken bauen.
Noch im gleichen Jahr verkehrte der erste Schlafwagenzug der belgischen Firma Compagnie International des Wagon-Lits, die noch heute besteht, von Wien nach Oršova, von wo man Anschluss an die Donauschiffe hatte.

Orient-Express gleich Luxuszug

1888 stellte die Bulgarische Staatsbahn die Strecke bis zur serbischen Grenze fertig. Die Züge konnten nun durchgehend über Budapest, Bukarest, Sofia bis zum türkischen Bahnhof, später Sirkeci, in Istanbul fahren.
In den Jahren seines Bestehens wechselte der Orient-Express mehrmals seine Routen, da die Linienführung auch politisch bestimmt war. Immer wieder wurden Strecken aber aufgrund mangelnder Auslastung auch eingestellt.
Der Ausgangspunkt des Express war in der Regel der Bahnhof Paris – Gars de l’Est. Die Züge, die unter dem Namen Orient-Express verkehrten, waren Luxuszüge, Schnellzüge, die zeitweise nur Schlafwagen, Speisewagen und Gepäckwagen führten. Ab 1922 erhielten die Waggons auch ein besonderes Äußeres. Der Aufbau der Wagen bestand aus Teakholz. Später hatten die Schlafwagen Stahlaufbauten in dunkelblauer Ausführung mit einer goldenen Schrift.

Der Simplon-Orient-Express

Die Waggons hatten vier Zweibett- und acht Einbettabteile. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise wurde dann auch eine zweite Klasse eingesetzt, deren Abteile durchgehend zweibettig waren. Bis zum vollständigen Einstellen des Express 2009 waren die ab 1920 angeschafften Waggons in Betrieb.  
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde von den Ententemächten 1920 eine Konvention unterzeichnet, die das Durchfahren von Deutschland, Österreich und Ungarn nicht erlaubte. Daher fuhr der Zug von Paris über die Schweiz, durch den Simplontunnel bis nach Belgrad und Istanbul und hieß jetzt Simplon-Orient-Express. Dieser Zug durchfuhr neun Länder. Erst zehn Jahre später fuhr der Orient-Express wieder durch Deutschland. Von Paris kommend fuhr er über Straßburg nach München und Wien, um seine Fahrt über Bratislava, Budapest, Belgrad, Sofia nach Istanbul fortzusetzen.

Ankunft in Istanbul – Sirkeci

Von all den durchfahrenen Grenzen merkten die Reisenden verhältnismäßig wenig. Sie stiegen am Anfang der Reise in den Zug ein und nach drei Tagen an ihrem Zielort, wenn es Istanbul war, aus. Die Fahrt war kein touristisches „Event“ sondern eine notwendige, wenn auch bequeme Reise.
Auch wir Kinder dürften von der Fahrt nicht besonders beeindruckt gewesen sein. Vielleicht wunderten wir uns, dass während der Fahrt die Landschaft sich änderte, die Häuser etwas anders aussahen und auch die Menschen anders angezogen waren und anders sprachen. Aber eigentlich freuten wir uns darauf, endlich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen und herumtoben zu können und unseren Vater wieder zu sehen, denn 72 Stunden nur auf Waggons beschränkt zu sein, war nicht das wahre Vergnügen für Kinder in unserem Alter. Und so kam es wohl, dass anstatt der Strecke des Orient-Express ein Nachtisch die Erinnerung dominiert.

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