Hölderlins „Andenken“

von Liane Rohn

Unterwegs auf Hölderlins Spuren von Nürtingen nach Bordeaux.

Verständnis

Hölderlins Dichtkunst zu verstehen, scheint nicht nur schwierig zu sein. Literaturinteressierte und der Poesie Zugeneigte versuchen seit jeher, Verse seiner Gedichte zu zerpflücken, Deutungen und Interpretationen zu wagen. Die Rede ist an dieser Stelle nicht von professionellen Literaturforschern und -analytikern.

Unwägbarkeiten

Thomas Knubben, Autor des Buches Hölderlins Winterreise mutete sich 2007/8 zu, jenen Fußweg Hölderlins aus den Jahren 1801/2 von Nürtingen nach Bordeaux zu gehen.
Er hoffte so, mehr über des Dichters fatale Reise zu erfahren und zu begreifen. Ein Unterfangen, das zunächst schwer zu verstehen ist. Und man fragt sich, wie gefesselt Knubben von Hölderlins Persönlichkeit war, mehr als zwei Monate strengster Witterungsverhältnisse und körperlicher Anstrengungen, „Unwägbarkeiten“ im Wortsinn auf sich zu nehmen.

Nähe

Zwei Jahrzehnte vor seinem Aufbruch nahm Knubben im Geist und umfangreicher Recherchen Hölderlins Spuren auf. Darum erscheint es zunächst unzureichend damit begründet, des Dichters in Versen gehaltene Erlebnisse mit seinen Erfahrungen in einem Buch zu verarbeiten. Vielmehr war die ganze Biografie Hölderlins, so weit greifbar, Grundvoraussetzung, dieses Werk zu schaffen.
Knubben ist mehr als ein Hölderlinverehrer. Wer einen so praxisnahen Versuch unternimmt, dessen Dichtkunst zu verstehen, erfährt beim Lesen des Buches, was Denken im Gehen vermag, wie nahe sich beide Geher trotz riesiger historischer und sozialer Unterschiede sind.

Identisch und doch verschieden

Nahezu gleich sind die Stationen des Weges von Nürtingen nach Bordeaux. Und die Aufbruchzeit die denkbar härteste im Dezember, verlangte von beiden Gehern eine gute Kondition, aber unterschiedliche Antriebsmomente. Es waren keine Spaziergänge, oder wie Ottfried Käppeler in der Südwestpresse in seiner Rezension des Buches vermerkte „keine Spaßpilgerei“. Die Erfahrungen Knubbens mit den wenigen Überlieferungen Hölderlins zu verknüpfen, soll den Sinn dieser Winterreise erklären.

Sinn oder/und Ziele.

Als die beiden Wanderer aufbrachen, wollten sie irgendwann und wo ankommen. Das Wo kann   vorher erwogen werden, im besten Falle bei sich selbst! Das wann ist eine Frage äußerer Umstände und körperlicher Verfassung. Hier scheint es erhebliche Ungleichheit zu geben. Die Wege schlecht oder weniger gut, führten zu Hölderlins Zeit zwar schon nach Streckenkarten, unterschieden sich von der Begehbarkeit zwei Jahrhunderte später schon, ebenso die Herbergsmöglichkeiten, Beköstigungen, die Pflege körperlicher Befindlichkeiten. Was beide Geher gleichermaßen anlangt, einen solchen Fußmarsch zu unternehmen, war „nicht nur sinnlos durch die Gegend zu laufen“, sondern jene Empfindung aufzuspüren, die nur in der persönlichen Einsamkeit Einkehr in die Gedankenwelt halten, sie zu formieren, sich stets neu beeindrucken zu lassen.

Mein eigener Erinnerungssprung.

Vor mehr als sechs Jahren, während einer Akademiewoche des ZAWIW der Universität Ulm, sollte ich u. a. mit Hölderlins Andenken vertraut gemacht werden. Seine dichterische Ausdrucksweise verstehen lernen können, die tiefgründigen Anstöße finden für diese Strophen, war die Absicht des Seminars Erinnern und Vergessen von Dr. Pia Daniela Schmücker. Ich war nicht allein, den Inhalt nicht verstehen zu können. Heute weiß ich, und auch das ist das Resultat Thomas Knubbens Beschreibungen der Winterreise Hölderlins, dass Hintergrundwissen über künstlerische und Gedankenfreiheiten notwendig ist. Weil es dieses Buch gibt, verstehe ich Hölderlins Andenken, die durch Knubben selbst gemachten Erfahrungen im Gehen, und die leider nur spärlichen Informationen Hölderlins, deutlich werden.

Kritiken

An dieser Stelle drängt es mich geradezu, eine Schweizer Kritikerin so zu zitieren: „Knubben zieht einen in Hölderlins Bannkreis, sodass wir glauben, mit den Augen des Dichters sehen, mit seiner Seele empfinden zu können.“ Und es sei hinzugefügt, in Gedanken mit ihm zu gehen.
Die Sprache des Dichters verstehen heißt noch nicht, die Beweggründe zu erspüren, diesen Weg zu gehen. Wie sich äußere Eindrücke beider Wanderer ähneln mögen, aus Herzens- oder Nahrungsnot sich auf den Weg zu machen wie einst Hölderlin, darin unterschieden sie sich absolut. Knubben versucht gerade an dieser Stelle, Hölderlins Gründe für diese fatale Reise zu verstehen, um sie in die Gegenwart zu transportieren. Der Schriftsteller Peter Härtling, der sich selbst als notorischen Kopfwanderer bezeichnet, betrachtet Knubben als einen Wanderer, der auf Hölderlins Spuren nur im Gehen des Dichters Sprache begreift.

Was bleibt

kann nur der Wunsch sein, ebenfalls auf Spurensuche zu gehen, einzudringen in eine „begehbare Welt“ höchster Dichtkunst, vorzudringen in den „Dichterolymp“ eines Hölderlin, letztendlich einzusehen, dass jene Regionen Respekt und Bewunderung abverlangen, dem schlichten Wanderer lediglich Gehhilfen verabreicht werden, Poesie zu lieben.

Quellen:

Thomas Knubben, Hölderlin. Eine Winterreise
und im Buchcover Peter Härtlings Kurzrezension

Kritiken