Armut in der Kunst des 19./20. Jahrhunderts: Käthe Kollwitz

von Ute Lenke

Kaiser Wilhelm nannte es Rinnsteinkunst, im Dritten Reich dann als entartete Kunst aus Ausstellungen entfernt: die Werke von Künstlern der Moderne wie Käthe Kollwitz fanden wenig Gnade vor den Augen von Kaiser, Führer und Großbürgertum.

Armut und Kunst – ein Widerspruch?

In der Geschichte Europas galt Armut bis ins 19. Jahrhundert als selbstverschuldet, als Übel, das es zu bekämpfen galt: durch Arbeit in Arbeitshäusern, durch Erziehung in „Zuchthäusern“.

Die bürgerliche Gesellschaft schaute weg und genoss ihre Privilegien, die Teilhabe an Kultur und Bildung als selbstverständlich. Ihre Kunst, ob Malerei, Bildhauerei, Dichtung, sollte das Schöne, Gute, Ideale darstellen.

Mit der zunehmenden Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhundert, dem Zustrom von Arbeitskräften in die Städte, Enteignungen auf dem Lande, änderte sich das Sujet der Künstler: vor dem wachsenden Elend in den Industriestädten, der Wohnungsnot, den Krankheiten, dem Hunger konnten sie nicht länger die Augen verschließen. Die Kunstrichtungen der Moderne wie Realismus, Impressionismus und Expressionismus stellten nun zum Teil schonungslos Hässliches wie einfache Leute und ihren Alltag dar.

Künstler wie Max Liebermann, Heinrich Zille, Käthe Kollwitz, Fritz von Uhde setzten sich in ihren Werken intensiv mit Not, Elend und sozialer Ungerechtigkeit auseinander.

Die Gemüter der Ausstellungsbesucher und Kritiker erhitzten sich über solche „Armeleutekunst“: von „Rinnsteinkunst“ (Kaiser Wilhelm), „Pariser Import“, „sozialistische Tendenzbilder“ war die Rede. Dabei ging es weniger um die Gemälde und WAS sie zeigten, sondern um die Empörung, DASS sie etwas zeigten, was das zarte Empfinden des Großbürgertums verletzte.

Käthe Kollwitz

Stationen des Lebens

Eine dieser „Rinnsteinkünstlerinnen“ war Käthe Kollwitz. Sie wurde 1867 in Königsberg geboren und verbrachte dort eine sorglose und glückliche Kindheit. Ihr Vater hatte schon das zeichnerische Talent seiner Tochter entdeckt und förderte sie; eine Ausbildung als Künstlerin oder Studieren waren für Frauen im 19. Und frühen 20. Jahrhundert nicht selbstverständlich, sie aber hatte Unterricht bei damals bekannten Künstlern und Lehrern.

Sie zeichnete und „pinselte“ – wie sie es nannte – früh und viel. Ihren Tagebüchern kann man entnehmen, dass sie schon als Kind ein Gespür für die Schattenseiten des Lebens hatte: sie berichtet von toten Kindern, Witwen, Ertrunkenen, die sie als Kind gesehen hatte.

„Soziale“ Malerin

aus dem Zxklus „Weberaufstand“

Nach Jahren der künstlerischen Ausbildung in München, Berlin und Königsberg und Studienaufenthalten in Paris und Florenz heiratete sie ihren langjährigen Verlobten Karl Kollwitz, Arzt, Sozialdemokrat, der in einem Berliner Arbeiterviertel eine Kassenpraxis hatte.

Während ihrer Ausbildung in München hatte sie sich unter dem Einfluss von Karl Klinger schon für ihr Genre: Grafik und Druckgrafik entschieden – Farbe lag ihr nicht.  In Berlin machte damals die Aufführung von Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ Furore; hiervon angeregt schuf sie einen Druckzyklus „Ein Weberaufstand“, mit dem ihr der Durchbruch als anerkannte Künstlerin gelang. Sie dafür mit der „kleinen goldenen Medaille“ auszuzeichnen, lehnte Kaiser Wilhelm I. ab mit der schon zitierten Begründung „Rinnsteinkunst“. Bei einer späteren Ausstellung lehnte auch Kaiserin Auguste Victoria die Bilder von Käthe Kollwitz ab: die abgebildeten Frauen sähen ja viel zu überanstrengt aus.

Käthe Kollwitz hatte aber ihr Thema gefunden: die Darstellungen aus dem Arbeiterleben. Sie schreibt:“ …, weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach und bedingungslos das gaben, was ich als schön empfand…Ohne jeden Reiz waren mir Menschen aus dem bürgerlichen Leben. Das ganze bürgerliche Leben erschien mir pedantisch. Dagegen einen großen Wurf hatte das Proletariat.“ (Käthe Kollwitz, Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken, Wiesbaden 1986, S.274)

Bild: Weberaufstand?

Depressionen

Käthe Kollwitz litt zeit ihres Lebens immer wieder an Depressionen, das Arbeiten fiel ihr schwer und war doch notwendig, um die „Düsternis“ um sie herum zu ertragen. Sie schreibt in ihren Tagebüchern:“…erst viel später (…) erfasste mich mit ganzer Stärke das Schicksal des Proletariats und aller seiner Nebenerscheinungen. Ungelöste Probleme wie Prostitution, Arbeitslosigkeit, quälten und beunruhigten mich und wirkten mit an meiner Gebundenheit an die Darstellung des niederen Volkes, und ihre immer wiederholte Darstellung öffnete mir ein Ventil oder eine Möglichkeit, das Leben zu ertragen.“ (S.274, ebda.) *

Museum Köln

Pieta an der Neuen Wache. Berlin

In Köln gibt es seit 1985 das erste Käthe-Kollwitz-Museum, das über einen Großteil der Zeichnungen, Druckgrafik, Arbeiten für den Simplizissimus verfügt; die frühen Zyklen z.B. „Ein Weberaufstand“, aber auch das Spätwerk, in dem sie sich mit dem Tod auseinandersetzt, befinden sich hier. Das plastische Werk von Käthe Kollwitz und die meisten Bronzeskulpturen sind im Kölner Museum zu sehen – soweit sie nicht an anderen Orten, wie z.B. in Berlin an öffentlichen Plätzen ausgestellt sind: in der Neuen Wache unter den Linden befindet sich die von ihr geschaffene Pieta „Mutter mit gefallenem Sohn“, die seinerzeit  auf Initiative von Helmut Kohl zum Gedenken an die Opfer der Gewaltherrschaft aufgestellt wurde.

Bilder von Not und Armut

Ein Gang durch die Ausstellung im Kölner Museum ist zweifellos bedrückend. Die Bilder behandeln Themen aus der Zeit vor, während, vor allem nach dem 1. Weltkrieg: Elend, Hunger, Not, Armut, Krieg.

Das grafische Werk ist ausschließlich in schwarz-weiß dargestellt, Kohle- oder Bleistiftzeichnungen, Holzschnitte und Lithografien. Allein durch die Schwarz-weiß-Kontraste wirken die Darstellungen düster und aufrüttelnd.  Die Motive sind statisch: selten ist Bewegung ausgedrückt, nur Stillstand und Hoffnungslosigkeit, die sich in den hohlen Augen, den ausgemergelten Gesichtern und knochigen Händen der Figuren widerspiegeln. Weiß überhöhte Schädel und ausdruckslose Gesichter erschrecken den Betrachter.

Mütter und Witwen

Auffallend ist die Häufigkeit von Darstellungen der Mütter: Mütter sind es, die am meisten von Armut betroffen sind; sie und die hungernden, kranken, oft sterbenden Kinder, Mütter von Gefallenen des 1. WK´s, Witwen; sie sind ein Thema, das die Künstlerin auch aus eigenem Erleben ein Leben lang beschäftigte. Der jüngere Sohn Peter war gleich zu Beginn des 1. WK gefallen, ihr Mann war Arzt in einem der Berliner Arbeiterbezirke, in denen unvorstellbare hygienische und soziale Verhältnisse herrschten. Streiks, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Hunger, ungewollter Kindersegen, Tuberkulose, Gewalt, Kriminalität waren an der Tagesordnung; allgemein zugängliche Wohlfahrtseinrichtungen waren selten. Durch ihren Mann erfuhr sie von dem Elend der Patienten und besonders der Patientinnen. Nach dem Krieg wurde es durch Inflation und politische Kämpfe eher schlimmer. Käthe Kollwitz konnte nicht helfen, aber durch ihre Kunst, die sie immer als ihren Reichtum empfand, legte sie den Finger auf die Wunden ihrer Zeit.

Wirkung

Als Künstlerin war Käthe Kollwitz anerkannt und geehrt, sie war eine der ersten Professorinnen an der Berliner Künstlerinnenakademie, erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

Politisch war sie eher unerwünscht: zu sozialistisch, zu sozialkritisch.  Den Nationalsozialisten ist sie ab 1933 mit ihrer linken Gesinnung und als Kriegsgegnerin vollends unerwünscht; sie verliert alle Ämter, darf nicht mehr ausstellen und kann nur unter Schwierigkeiten arbeiten. Dafür wird sie nach dem 2. Weltkrieg gerade wegen ihrer „linken Gesinnung“ von der DDR vereinnahmt, was sie nicht mehr erlebt, da sie wenige Tage vor Kriegsende 1945 stirbt.

Heute gilt sie als eine der bedeutendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach ihr sind zahlreiche Straßen, Plätze, Schulen benannt; in der DDR wurde sie mit Briefmarken geehrt; noch 2017 wurde ein Intercity (ICE) nach ihre benannt; sogar ein Asteroid trägt ihren Namen.

Weiterführende Links:

* weiteres zum Lebenslauf: wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4the_Kollwitz

Quellen:
Käthe Kollwitz, Ich sah die Welt mit liebevollen Blicken, Wiesbaden 1986
https://www.kollwitz.de/
https://www.artizen.de/docs/das-lange-19-jahrhundert-revisited-die-darstellung-von-armut-und-reichtum

Bildquellen:
eigene Fotos und https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4the_Kollwitz#/media/File:Neue_Wache.jpg
wikimedia.org/wiki/File:K%C3%A4the_Kollwitz_um_1906.jpg