Meine Flucht und Integration nach dem Zweiten Weltkrieg

von Hildegard Neufeld

Kein Thema wird in Deutschland so oft und intensiv diskutiert, wie der Zustrom der vielen Flüchtlinge, und Fragen werden laut, wie: Wo sollen wir sie unterbringen? Wie werden sie sich integrieren? – Nur wenige erinnern sich noch an die Zeit als Millionen Deutsche selbst Flüchtlinge waren.

Meine Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges

Anders als bei den heute weltweit aus ihrer Heimat flüchtenden Menschen, war die Flucht der deutschen Bevölkerung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs staatlichen Regelungen unterworfen.
Ich bin auf dem landwirtschaftlichen Grundstück meiner Eltern im damaligen Freistaat Danzig aufgewachsen. Als ich meine Ausbildung in der Stadt Danzig infolge der Kriegsereignisse unterbrechen musste, wurde ich kriegsdienstverpflichtet und beim Versorgungsamt Danzig mit der Abwicklung von Entschädigungsansprüchen der kriegsverletzten Wehrmachtsangehörigen betraut.
Im Kriegswinter 1945 erreichte uns auch im bisher relativ friedlichen Danzig das akute Kriegsgeschehen, und die sowjetischen Kampftruppen standen bald vor unserer Tür.

Flüchten durften wir nur, wenn der zuständige Reichsverteidigungskommissar die Flucht genehmigte. Als diese Genehmigung bei uns eintraf, waren alle Fluchtwege versperrt. Es blieb uns danach nur der Schiffsweg über die Ostsee.

Der Weg über die Ostsee

Es war in den letzten Kriegswochen des Jahres 1945. Die durch die akuten Kampfhandlungen betroffene Bevölkerung Ost- und Westpreußens wartete oft tagelang am Weichselufer auf ein rettendes Schiff, das sie aus der Umklammerung der sowjetischen Kampftruppen heraus in Sicherheit bringen sollte.
Nach zwei stürmischen, kalten Tagen und Nächten, die wir im Freien verbrachten, legte der erste Prahm am Weichselufer an. Bald folgten ihm weitere, nahezu bereits vollbeladen mit verwundeten Soldaten. Jeder Prahm nahm zusätzlich noch eine größere Zahl von Flüchtlingen auf, und auch für mich fand sich ein Platz auf dem bald wellenbewegten, schwankenden Deck.

Bei einbrechender Dunkelheit umschifften wir die von den sowjetischen Truppen besetzte Stadt Danzig und gingen nachts auf der durch Bomben nahezu zerstörten Halbinsel Hela an Land. Hier warteten wir zwei Tage, bevor ein aufgekommener Sturm die Überfahrt zu einem auf der Ostsee wartenden Frachtschiff erlaubte.

Ankunft in Dänemark

Nach drei Tagen landeten wir in Dänemark und nahmen in den bereitstehenden Zügen Platz. Unsere Weiterfahrt verzögerte sich, weil dänische Freiheitskämpfer die Gleise gesprengt hatten, um die deutschen Transporte zu behindern.
Bekanntlich war Dänemark in den Kriegsjahren 1940-1945 von deutschen Truppen besetzt worden. Nun wurde es von der deutschen Flüchtlingswelle geradezu überrollt. In nur wenigen Wochen musste das etwa vier Millionen Einwohner zählende Land 250.000 deutsche Flüchtlinge aufnehmen. Allein in Kopenhagen wurden 120 Schulen beschlagnahmt und im ganzen Land über 1000 Flüchtlingslager eingerichtet.
Nach der Kapitulation Deutschlands wurden die Flüchtlinge in Dänemark interniert und in den von dänischen Freiheitskämpfern bewachten Lagern zusammengefasst, die durch Stacheldrahtzäune und Wachtürme gesichert waren.       
Die deutschen Flüchtlinge stellten eine beachtliche Belastung für Dänemark dar, doch gab es keinen Weg für das Land, sich der ungebetenen Gäste zu entledigen.

Kein Raum im zerstörten Nachkriegsdeutschland

Das Nachkriegsdeutschland hatte etwa 12 Millionen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten aufnehmen müssen und war überfüllt. Neben der völlig unzureichenden und oft lebensbedrohlichen Versorgungslage herrschte lange Zeit ein gravierender Wohnungsmangel.
Für die in Dänemark internierten Flüchtlinge war in Deutschland zunächst kein Raum. Erst etwa zwei Jahre nach Kriegsende durften die ersten Flüchtlings-Kontingente nach Deutschland ausreisen. 1949 kehrten die letzten Flüchtlinge nach Deutschland heim, konnten die letzten Internierungslager in Dänemark aufgelöst werden.

Aufnahme und Integration

Die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, die in den ersten Nachkriegsjahren in Deutschland ankamen, stellte eine große Herausforderung für unser Land dar. Wie in der Dokumentation „Frankfurt 1933 – 1945“ berichtet wird, war für die Amerikanische Besatzungszone eine Aufnahme bis zu 1,7 Millionen vorgesehen. Hessen sollte davon rund 27 Prozent oder etwa  600.000 Personen aufnehmen. Angesichts der zerstörten Wohnungen und Lebensmittelknappheit stellte die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen eine kaum lösbare Aufgabe dar.
Notdürftig wurden die Ankommenden in Hessen vorwiegend auf dem Lande und in Kleinstädten in Lagern untergebracht und bei Einheimischen einquartiert und mit Lebensmitteln und Heizmaterial versorgt.
In den Großstädten, wie Frankfurt am Main, war die Wohnraumsituation und die Versorgungslage besonders schwierig, deshalb konnten hier weniger Flüchtlinge aufgenommen werden als in ländlichen Gemeinden. Bis 1950 wurden in Frankfurt insgesamt 22.000 Flüchtlinge untergebracht, drei Jahre später war ihre Zahl auf 85.887 gestiegen. Das waren 14,3 Prozent der damals knapp 600.000 Einwohner der Stadt.

Initiativen der westdeutschen Politiker

Um die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen leisten und koordinieren zu können, erfolgte in Hessen der Aufbau einer Flüchtlingsverwaltung. Das hessische Flüchtlingsgesetz von 1947 sollte ein „organisches Aufgehen der Flüchtlinge in der Bevölkerung“ sicherstellen.
Ab 1951 war es der Hessenplan, der die gesamtwirtschaftliche Entwicklung vorantreiben und in den ersten Jahren der Arbeitsplatz- und Wohnraumknappheit einen Ausgleich zwischen den Einheimischen und Flüchtlingen herstellen sollte.
Das Bundesvertriebenengesetz regelte die Aufnahme und Unterbringung der nach 1949 in die Bundesrepublik übersiedelnden Flüchtlinge und Vertriebenen. Das am 14.08.1952 verabschiedete Gesetz über den Lastenausgleich ordnete an, dass die Besitzenden im Westen mit einer Vermögensabgabe den Opfern von Kriegssach- und Vertreibungsschäden helfen sollten, eine gleichmäßigere Verteilung der Kriegs- und Kriegsfolgekosten zu erreichen.

Erinnerungen

Nur wenige ältere Menschen in Deutschland  erinnern sich noch an die Zeit, da die Deutschen selber Flüchtlinge waren. Auf den Krieg folgten für Millionen Deutsche Flucht und Umsiedlung. An ihren Zufluchtsorten wurden die Heimatvertriebenen nicht gerade begeistert empfangen, schrieb Annette Zoch am 19.05.2015 in der Süddeutschen Zeitung.
Viele waren schon in den letzten Kriegsmonaten aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern und dem Sudetenland vor der Roten Armee geflohen.
Nach Flucht oder Vertreibung mussten sie oft mit widrigen Bedingungen fertig werden. Für die eigenen Landsleute waren sie nicht selten unwillkommene Eindringlinge mit fremdem Dialekt — Konkurrenten um das Wenige im kriegszerstörten Land.
Trotzdem ist die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht der Historiker gut gelungen.

Heimkehr nach Deutschland

Im Spätsommer 1947 ging meine 2 1/2-jährige Internierung in Dänemark zu Ende, und früher als für mich als Alleinstehende vorgesehen, kehrte ich nach Deutschland zurück. Anders als im Rahmen des jetzigen, zunächst ungebremsten Flüchtlingszustroms war der Zuzug der in Dänemark internierten Flüchtlinge durch die alliierten Besatzungsmächte streng geregelt.
Zuerst durften Ehefrauen mit ihren Kindern ausreisen, danach die Kinder zu ihren Eltern. Der große Rest musste warten, bis in Deutschland wieder Platz zur Verfügung stand. Da mein Vater, ein Landwirt im ehemaligen Freistaat Danzig, noch von den Polen festgehalten wurde, „erfand“ ich einen neuen Vater, als die allein lebenden Flüchtlingskinder zu ihren Eltern nach Deutschland ausreisen durften (und zur Sicherheit in jeder Besatzungszone einen).

Als die Sowjetische Besatzungszone sich bereit erklärte, ein Kontingent „Kinder zu ihren Eltern“ aufzunehmen, habe ich – mit einem Schiff über die Ostsee – Dänemark verlassen und war froh und erleichtert, als meine nicht ganz legalen Dokumente alle Prüfungsstellen anstandslos passierten.

Unterwegs zu meinen Vätern

Während unserer Fahrt über die Ostsee wurden wir von einem sowjetischen Offizier willkommen geheißen und nach der Landung bei Rostock in das Quarantänelager Evershagen gebracht. Hier wurden, wie bei den jetzt in Deutschland ankommenden ausländischen Flüchtlingen, Registrierungen, Überprüfungen, Untersuchungen sowie Impfungen vorgenommen. Erst nach Fertigstellung und Aushändigung der Dokumente durfte das Lager zur Heimreise verlassen werden.
Bei meinem ersten Ersatzvater blieb ich nur kurze Zeit, in der ich als Heimkehrerin registriert wurde. Danach verließ ich bei Nacht und Nebel über die „grüne Grenze“ die Sowjetische Besatzungszone und erreichte – nach einem unfreiwilligen Aufenthalt im Gewahrsam der sowjetischen Grenzkontrolle – meinen zweiten Ersatzvater in Münster (Westfalen). Diese Vaterrolle hatte meine nach Münster geflüchtete Cousine übernommen, die mir einige Tage später ihren Platz in einem Studentenheim überließ.
Bis dahin übte ich mich in der Rolle eines „Blinden Passagiers“ und nahm wiederholt im Kleiderschrank Zuflucht, wenn Entdeckung durch die Heimaufsicht drohte.

Meine Integration in Westdeutschland

Als mein illegaler Aufenthalt im Studentenheim zu Ende ging, eilte ich mit einer Wohnplatz-Bestätigung zum Städtischen Einwohnermeldeamt, um mich als neue Bürgerin registrieren zu lassen. „Noch eine, die uns die letzten Kartoffeln wegessen will“, rief mir der federführende Beamte über den Tresen als Begrüßung zu. In der Folgezeit wurde ich fast täglich mit der Lebensmittelknappheit konfrontiert, bis die Währungsreform für volle Teller und Schüsseln sorgte.
In Münster absolvierte ich als Werkstudentin mein Studium und trat dann meine erstrebte Position als Wirtschaftsredakteurin in Bad Homburg an.
Meine Integration als Ostflüchtling in Westdeutschland hat sich fast unbemerkt vollzogen. Ich wusste ja, dass ich meinen Lebensunterhalt selbstverantwortlich und ohne Hilfe würde bestreiten müssen, und es ist mir auch gelungen. Schließlich hatte unser kriegszerstörtes Land nach dem Zweiten Weltkrieg um sein eigenes Überleben zu kämpfen. Helfende Netze, wie sie heute durch öffentliche, professionelle und finanzielle Hilfe über die ankommenden Flüchtlinge gebreitet werden, wären damals gar nicht möglich gewesen

Unterbringung und Integration der Flüchtlinge heute

Nicht endende Flüchtlingsströme, fehlende Unterkünfte, überforderte Behörden – fast jeden Tag werden wir damit konfrontiert.
Angesichts der besorgten Fragen, wie Deutschland den starken Flüchtlingszustrom weiterhin bewältigen soll, antwortet unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel zuversichtlich:
„Wir schaffen das!“

Und, wenn wir zurückblicken, erinnern wir uns, dass Deutschland Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem Flüchtlingsstrom viel größeren Ausmaßes fertig geworden ist – und Deutschland hat es geschafft!