von Lore Wagener
Wenn wir an die „gute alte Zeit“ denken, schwebt uns meist eine Idylle vor, wie sie Carl Spitzweg so bezaubernd gemalt hat. Aber Vorsicht, der Maler übte gern beißende Gesellschaftskritik.
Der Spaziergang
Der Ursprung des bürgerlichen Spaziergangs ist das „Lustwandeln“ in Gärten und Barockparks, das dem Adel vorbehalten war. Später taten das auch bürgerliche Kreise gern, um Kontakte zu knüpfen oder ungestört Gespräche zu führen. Besonders im 18. Jahrhundert kam das in Mode und förderte die Entwicklung von Parks oder Promenaden. Als Brauch für den Sonntagnachmittag war der Spaziergang im 19. Jahrhundert in Deutschland sehr verbreitet Man denke nur an den Osterspaziergang in Goethes „Faust“. Beim sonntäglichen ‚Familienspaziergang‘ konnte dessen Gemächlichkeit für Kinder recht quälend sein. Und manchmal langweilten sich auch die Erwachsenen und empfanden ihn nur noch als lästige Pflichtübung, meist – um zu sehen und gesehen zu werden.
Der Sonntagsspaziergang
In diesem Gemälde von Carl Spitzweg kommt das kleinstädtische Bürgertum nicht gut weg. Hier wird die Gewohnheit der Bürger, mit der ganzen Familie sonntags formell in der Natur zu promenieren, aufs Korn genommen: Man sieht eine Honoratiorenfamilie inmitten der wogenden Kornfelder vor den Toren der Stadt. Es ist kurz vor der Getreideernte. Die Sonne scheint und der Himmel hat zum Teil ein wunderschönes Blau. Es ziehen aber schon dunkle Wolken heran. Vielleicht ist es gewitterschwül. In der Ferne sieht man ein Wäldchen. Am Rande des schmalen Feldweges blühen Sommerblumen. Aber bei der wandelnden Familie bemerkt man die Schönheiten der Natur nicht. Man zeigt keine Lust, sich an der idyllischen Umgebung zu erfreuen. Alle Familienmitglieder leiden offensichtlich unter der Sonne und haben ihr Gesichtsfeld so verbarrikadiert, dass sie von der Natur auch gar nichts sehen können.
Der Vater
Allen voran schreitet schnellen Schrittes das Familienoberhaupt, ein beleibter Herr in mittleren Jahren. Ihm ist warm. Er hat den Sonntagsgehrock lose über eine Schulter gelegt und hält den überaus hohen Zylinderhut als Sonnenschutz über den Kopf. Ihn aufzusetzen, wäre sicherlich zu warm. Für seine Umgebung hat der Lustwandelnde keinen Blick übrig. Er scheint sich darauf zu konzentrieren, möglichst schnell wieder nach Hause zu kommen.
Die Mutter
Die Gattin wandelt im Schlepptau ihres Mannes. Sie ist in ihrem Sonntagsstaat viel zu warm angezogen und vermutlich auch zu eng geschnürt. Sie scheint Mühe zu haben, mit ihrem Gatten Schritt zu halten. Ein niedliches Sonnenschirmchen soll sie vor der Sonne schützen. Dabei wäre das gar nicht nötig, denn ein riesiger Schutenhut verdeckt ohnehin ihr Gesicht so, dass sie weder nach links noch nach rechts gucken kann. Aufgrund ihrer Kopfhaltung ist zu vermuten, dass ihr Blick starr auf den Rücken ihres Hausherrn gerichtet ist. Ich denke, dass auch sie froh ist, wenn sie wieder die Heimstatt erreicht hat.
Die Töchter
In größerem Abstand folgen die beiden flüggen Töchter des Hauses. Auch sie haben große Schutenhüte aufgesetzt, die ihr Gesichtsfeld rechts und links einschränken. Sie sind ebenfalls im Sonntagsstaat. Beide sind in ein Gespräch vertieft und schauen auf den Boden. Vielleicht tun sie das deshalb, weil ihre Sonntagsschuhe drücken. Jedenfalls haben auch sie keinen Blick für die Natur übrig.
Das Söhnchen
Der kleine Junge am Schluss der Prozession ist das einzige Familienmitglied, das sich mit seiner Botanisiertrommel für die Natur zu interessieren scheint. Aber nach heutiger Ansicht verhält er sich nicht umweltfreundlich. Er fängt Schmetterlinge und Käfer und sperrt sie in seine Trommel, Vielleicht wird er sie später aufspießen und in einem Glaskasten ausstellen. Eigentlich auch kein Stoff für ein Idyll.
Carl Spitzweg hat hier die Hohlheit eines Rituals trefflich karikiert.