Lebensbilanz mit Geschichte verwoben

von Liane Rohn

Nach dem Buch „Zufälle“ über wesentliche Zeiträume meiner Vita soll dieser Beitrag zum Thema „Alter“, eine kurze Bilanz und ein Rückblick des bisherigen gelebten Lebens sein.

Am Vergangenen zu hängen, das Vergessen zu lernen sind nicht meine Kriterien des Lebensrückblicks. Denn was im Herzen bewahrt ruht, ist längst nicht vergessen.
Marcus T. Cicero äußerte sich 62jährig so: “Alten Menschen bleiben ihre Geistesgaben erhalten, wenn ihnen nur ihr Eifer und ihr Fleiß erhalten bleibt.“ Und ich gestehe, beim Bilanzieren der vergangenen vielen Jahrzehnte verspürte ich weder Müdigkeit noch Vergessenwollen. Nietzsche, einer meiner interessantesten Philosophen, schrieb übers Gedächtnis: „Das habe ich getan“ sagt mein Gedächtnis..
„Das kann ich nicht getan haben“ sagt mein Stolz.
Endlich gibt mein Gedächtnis nach!
Man vergisst nicht, wenn man vergessen will
man vergisst manchmal, dass man nicht unsterblich ist. Da ist Erinnern an kostbare Stunden und Erlebnisse ein Segen und Trost. Denn alles hat seinen Sinn. Diese Erkenntnis erklärt mir mehr und mehr all die Zufälle, die anscheinend mein Leben lang wegweisend waren, vielleicht bis zum Ende meiner Zeit Weg bestimmend bleiben.

Frühe Erinnerung

Als ich ein Manuskript über das Leben meiner einzigen Großmutter zu entwickeln begann, die ich von meiner Geburt an bis zu ihrem Tode kannte, schweifte ich unbewusst ab in die Erinnerungen meines Lebens. Und das ist nun die Bilanz, die bestimmt keinem Wirtschaftsprüfer standhält – lückenhaft, sprunghaft und manch fehlende Belege scheinen zumindest die historischen Grenzen des Vergessen haben zu entschuldigen.
Durch kindliche Unachtsamkeit als Dreijährige geriet ich, von Omas Hand losgerissen, unter eine Limousine. Außer einer Gehirnerschütterung und einem Schrecken mit Selbstvorwürfen der Großmutter ging der Unfall glimpflich ab. Die ohnehin innige Zuneigung hielt an bis zum Tode. Die Eltern, beide berufstätig, wussten meinen drei Jahre älteren Bruder und mich in guten Händen. Einen Opa gab es leider nicht, der Erste Weltkrieg und seine Folgen für diese Verluste waren die Gründe.
Ich hatte schon vom ersten Schuljahr an Probleme mit meiner Größe und Alter. Erstens war ich mit fast sieben Jahren eingeschult worden und dazu die Längste. Beim Sport war ich stets die Erste, die vorturnen oder sonstige Übungen machen musste. Und im Unterricht hatte ich schon sehr früh das Gefühl, besser sein zu müssen als die Jüngeren. Das zog sich hin bis zur Oberschule. Und als ich die Wirtschaftsschule absolvierte, relativierte es sich durch ein Nachkriegsschulsystem, in dem Jahrgänge versammelt waren, die teilweise noch im Krieg und Gefangenschaft waren.

Erwachsenwerden

Meine Konfirmation war etwas traurig, da mein Vater nicht dabei sein konnte. Er saß in einem Kriegsgefangenenlager. Und als ich ihn nach Jahren wiedersah, bin ich vor ihm weggelaufen, weil ich ihn nicht erkannte. Abgemagert und mit schlampigen Militärklamotten fürchtete ich mich geradezu vor ihm.
Lange währte es, bis sich wieder ein Familienleben einstellte. Die Mutter hatte über Jahre die Familie neben der Großmutter beschützt und Entscheidungen in schwieriger Zeit getroffen. Mein Bruder und ich im heranwachsenden Alter wussten nicht so recht, wessen Verhaltenshinweise galten. Eines ist ganz sicher, es war eine Zeit, die uns junge Menschen früh erwachsen werden ließ. Kriegsende, Flüchtlingsströme aus dem Osten, politische Umbrüche durch die Teilung Deutschlands. Als ich 18jährig vor der Tatsache stand, Abitur in der stark politisch geprägten Arbeiter- und Bauernfakultät der Jenaer Universität zu machen oder als Einzelhandelsgehilfe (mittlere Reife) versuchen, ins praktische Berufsleben zu gehen. Mein Vater riet mir seinerzeit ohne Nachdruck zu Letzterem, dafür war ich ihm trotz mancher Bedenken dankbar.

Mit Geschichte verwoben

In meinem Buch „Zufälle“ beschrieb ich all jene Verirrungen und Verästelungen ungewöhnlicher Lebens- und Berufswege. Eigentlich habe ich viele Wege beschritten, immer getragen von einer zufälligen positiven Intuition, selten erklärbar, aber ohne Abstürze. Ich weiß, dass es einfache Möglichkeiten gegeben haben mochte, aber sie boten sich in meiner Biografie einfach nicht an. Im zunehmenden Alter begriff ich, dass Umwege dann Sinn machen, wenn man aus sich heraus eigenwillig wachsen, Fremdes und Vergangenes umbilden und sich einverleiben muss, ohne Verlorenes ersetzen zu müssen.
Gelernt habe ich aus jedem Lebensabschnitt, nicht mit Umständen zu hadern oder Wegbegleiter als wenig hilfreich zurückzuweisen. Im Rückblick betrachte ich die meisten Entscheidungen als positive „Gehhilfen“.

Reifezeit und Wertschätzung

Menschen begleiteten und bereicherten über die Jahre mein Leben auf vielfältige Weise. Mein verstorbener Mann, der mich in eine Welt des Sports einführte, die mich lehrte, was Leistungssport und höchste Erfolge und Ehrungen auch gerade in einem ehemals sozialistischen Staat bedeuten konnten, wie stark Hochachtung und politische Demütigung einen Menschen treffen kann. Dass daraus die Flucht aus einer sonst wohlbestallten Familie notwendige Folge wurde, sich eine fremde Welt auftat, in ihr sich zurechtzufinden, mehr noch, zunächst sich anzupassen, um allmählich einen eigenen neuen Weg zu beschreiten.
Höhen und Tiefen galt es schon sehr früh zu erleben. In ganz frühen Jahren begegnete ich Menschen, deren Wertschätzung mir erst im späteren Alter bewusst wurde. Und hier kann ich nicht umhin, erneut, und nicht zum letzten Mal, auf mein Buch Zufälle hinzuweisen. Manchmal hatte ich das Gefühl, durch derartige interessante Begegnungen für etwas entschädigt zu werden, deren Gründe sich irgendwann offenbaren.

Persönlichkeiten.

Wenn ich heute bedenke, mit welcher Leichtigkeit und Selbstverständigkeit ich mit interessanten Menschen zufällig zusammentraf, erst im Laufe der Jahrzehnte erkannte, wie bereichernd derartige Begegnungen waren und nachhaltig sind, wird mir die Fülle geistiger, kultureller Erfahrungen und prägender Lebenshaltung bewusst. Ob Naturwissenschaftler wie Prof. Dr. Oehlhey, (Weltschöpfung oder Weltentwicklung 1949), Künstler wie Otto Dix und Oskar Kokoschka, ob Persönlichkeiten aus der Politik, Erich Honecker, seinerzeit noch Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend zählen ebenso dazu wie Jakob Kaiser und Thomas Dehler, die in den Fünfziger-Jahren West-Ost-Beziehungen pflegten, meinen Weg kreuzten.
Bekanntschaften mit Theater- und Filmdarstellern wie Ruth Maria Kubitschek, die unter der Regie des jüdischen Regisseurs Prof. Helberg in Quedlinburg den Thomas-Münzer-Film drehte, ergaben sich. Und ich hatte das Glück, die ganze Film-Crew im historischen Finkenherd kennenzulernen, lebte mit ihr unter einem Dach. Der längst verstorbene schweizerische Schauspieler und Regisseur Robert Trösch, einst Kabarettist im Ensemble der Berliner „Distel“, der mir von einer Begegnung als blutjunger Mensch kommunistischer Prägung mit Lenin Anfang der zwanziger Jahre erzählte. Gisela Uhlen und Wolfgang Kieling traf ich zufällig bei einem Ost-West-Besuch der beiden populären Schauspieler in Quedlinburg, erhielt als die Jüngere Tipps für die kreative Ausgestaltung und Präsentation von Modenschauen nach westlichem Standard, die in jener Zeit fast revolutionär einschlugen.
Eine weniger optische als vielmehr akustische Geschichte gehört noch in diesen Zeitabschnitt. Zufällig wurde ich Ohrenzeuge eines Referates in einem Quedlinburger Versammlungsraum der örtlichen politischen Elite. Monoton gehaltene Gesprächsfetzen zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen, fiel mir schwer, machten mich umso neugieriger. Es ging, wie ich später von einem kompetenten Teilnehmer herausbekam, um einen Überläufer aus der BRD Dr. Otto John, seinerzeit Präsident des Bundesamtes für den Verfassungsschutz. Er wurde damals in der ganzen DDR herumgereicht, galt in Westdeutschland zunächst als politisch Verschleppter, später als Verräter. Jahrzehnte danach, mir war diese Geschichte völlig entfallen, las ich nach O. Johns Tod die ganze vermeintliche Wahrheit über diesen Politthriller.

Eigene Weltgeschichte

Dankbarkeit im Alter für gesammelte geistige Schätze und Erinnerungen an eindrucksvolle Persönlichkeiten erfüllt die Seele. Diese Erkenntnis bezieht sich aber auch auf bestimmte Menschen, die in Kenntnis von Teilen meiner Biografie, darüber schrieben. Ob es die Rezension meines Buches Zufälle durch Roswitha Ludwig betrifft oder beispielsweise ein ganz persönlicher Brief von Hanna Müller ebenfalls über diese Lebensfragmente. Journalisten wie Sigrid Balke, die mich während des Buchschreibens und bei Lesungen in bemerkenswerter Weise begleitet hat, schrieben über Interviews und Gespräche, wie Geschichte sich mit meinen Erinnerungen verwob. Ich bin froh, dieses Buch geschrieben zu haben, dessen Inhalt, zwar in bescheidenem Maße, auch etwas über die politischen Verhältnisse meiner Zeit in der DDR aussagt.
Wie im vorgerückten Alter Geschichte erlebbar wird, lässt meine Lebensbilanz deutlich werden. Aus einem einstmals geteilten Vaterland vertrieben, lebe ich seit mehr als zwanzig Jahren wieder in einem vereinten Deutschland.

Lebhafte Veränderungen.

Dass ein Jahrzehnt aus dem Buch „Zufälle“ in jenen Zeitraum fällt, der meinem Leben neue entscheidende Impulse und radikale Veränderungen brachten, scheint erstaunlich aber folgerichtig.
Ruhestand und Verlust des Ehepartners ließen zwei Optionen offen: In die Einsamkeit treiben lassen oder all jene Kräfte und unentdeckt gebliebene Sehnsüchte mobilisieren. Und wieder halfen Zufälle scheinbar aus dem Nichts, dass sich ganz neue Lebensperspektiven eröffneten.
Weiterbilden im älter werden! Das ZaWiW der Universität Ulm bot diese Möglichkeit, ohne akademische Ausbildung aber mit einer gehörigen Portion Lebenserfahrung auf allen Wissensgebieten weiter zu lernen. Mehr als 27 Akademiewochen habe ich ohne Unterbrechung in Hörsälen und Seminaren absolviert, daneben Studiengänge in Philosophie sowie medizinische Geschichte und Soziologie belegt. Und gleich zu Beginn dieser „Bildungsphase“ bot sich an, in einem Forschungsprojekt der mediz. psycholog. Abteilung der Ulmer Uni unter Prof. Dr. Zenz und Dr. Hrabal mitzuarbeiten. Arzt-Patienten-Beziehung war das neue große medizinische Thema, in das sich ältere, lebenserfahrene Menschen einbrachten. Mehr als drei Jahre gehörte ich diesem Team an, und die Ergebnisse wurden über die Universität hinaus veröffentlicht und den studierenden künftigen Medizinern vermittelt.
Fast zwangsläufig hieß es, sich neuer Kommunikationsmittel und Techniken zuzuwenden. Sich mit Computertechnik zu befassen war das eine, Erlerntes weiter zu geben das andere. Und so entwickelte sich fast automatisch ein Arbeiten mit Computern und ein Weitergeben der Kenntnisse an interessierte ältere Menschen.

Horizonte

Gleichwohl erlebte ich ein weiteres persönliches Bildungsspektrum. Zu Beginn dieses Jahrtausends sollten Reisen in fremde Länder und Kontinente geografische und kulturelle Horizonte erweitern. Neuseeland, Hawaii, Singapur und mehr als vier südamerikanische Staaten standen auf meiner Entdeckungsagenda.

Die Nord- und Südinsel Neuseelands boten mir eine wegweisende Begegnung mit einem Menschen, der mir psychische Hilfen leistete, als mich Erlebnis-Wünsche drängten, Unbekanntes kennenzulernen am anderen Ende der Welt. Andererseits beunruhigten mich damit verbundene Ängste vor Neuem, Ungewissen. Mich im wahrsten Sinne des Wortes an die Hand zu nehmen, auf Stärken des Geistes und der Seele zu verweisen, die jedem Wesen zu eigen sind, fest an diese Kraft glauben zu lassen, gaben mir ein tiefes Gefühl des Vertrauens. Das Land der langen weißen Wolke von Helikoptern und kleinen Motorfliegern aus sehen und bestaunen können, vielleicht auf einem Gletscher landen und in sommerlicher Kleidung eine Schneeballschlacht veranstalten, das alles gelang nach kurzer Zeit.

Ich war überwältigt und sehr stolz auf mich, dass alles geschah, wie gehofft, gewollt und erlebt. Eine treue Freundschaft mit diesem ganz speziellen Menschen und Autor des Buches Du. Ich? wird immer Bestand haben.
Aber auch in Zusammenarbeit mit dem ZAWIW kamen Exkursionen nach Spanien, England und die Slowakei der jeweiligen Senioren-Universitäten im Ideenaustausch zustande, die nicht zuletzt dazu dienten, mit älteren interessierten Menschen auf europäischer Ebene (und darüber hinaus) für ältere Menschen Ideen und Kenntnisse zu entwickeln und zu vermitteln.

Alles, was zählt.

Beeindruckende Personen kreuzten immer wieder meine Lebenswege, unvergessen bis zum heutigen Tage. Ein Mensch freilich bewegte etwas in meinem vorgerückten Alter, das mich tief beglückt.
Vergessen Geglaubtes, ja, über Jahrzehnte verborgen Gebliebenes tat sich plötzlich auf. Poesie und Dichtkunst legten Gefühle frei und Gedankengut, das nach außen drängte und noch immer fließt. Viele Veröffentlichungen haben mir klar gemacht, wie vermögend Altwerden und Altsein doch sind. Umso wichtiger ist die Bereitschaft, seine Sinne, sein Herz und den Geist zu öffnen, empfangsbereit zu bleiben, aber auch freigiebig mit jenen Besitztümern umzugehen, die von Natur aus geschenkt, mit Eifer erworben und gut verwaltet werden, um schließlich Mitmenschen teilhaftig werden zu lassen.
Leider haben gesundheitliche Probleme, namentlich Augenerkrankungen, die körperliche Mobilität rasch und heftig fast völlig zum Erliegen gebracht. Also bleiben geistige Regsamkeit und weltoffenes Interesse, um wach und aufnahmebereit dem Dasein künftig Sinn zu geben. Vielleicht mutet es gewagt an, mit dem letzten Satz meines oft zitierten Buches „Zufälle“ zu schließen: Mal sehen, was noch kommt!

Links:

Zufälle – Lebensfragmente