von Margret Budde
Der Philosoph Khalil Gibran wurde 1883 im Libanon geboren und starb 1931 in Boston. In seinen Büchern beschäftigt er sich mit den für sein Leben wesentlichen Gedanken über Leben, Liebe und Tod. Sein berühmtes Buch „Der Prophet“ hat rasch große Verbreitung gefunden.
Von der Zeit
Und ein Astronom sagte: Meister, was ist mit der Zeit?
Und er antwortete: Ihr wollt die Zeit messen, die maßlose und unermessliche.
Nach Stunden und Jahreszeiten wollt ihr euren Wandel richten und sogar den Lauf des Geistes lenken.
Aus der Zeit wollt ihr einen Strom machen, an dessen Ufer ihr sitzt und zuschaut, wie er fließt.
Doch das Zeitlose in euch ist sich der Zeitlosigkeit des Lebens bewusst,
Und weiß, dass Gestern nichts anderes ist als die Erinnerung von Heute und Morgen der Traum von Heute.
Und das, was in euch singt und sinnt, immer noch innerhalb der Grenzen jenes ersten Augenblicks weilt, der die Sterne in den Weltraum schleuderte.
Wer unter euch fühlt nicht, dass seine Kraft zu lieben grenzenlos ist? Und wer fühlt dennoch nicht, dass die Liebe, obgleich grenzenlos, im Kern seines Seins eingeschlossen ist und nicht von Liebesgedanken zu Liebesgedanken oder von Liebestat zu Liebestat zieht?
Und ist nicht die Zeit wie die Liebe, ungeteilt und ungezügelt?
Doch wenn ihr in eurem Denken die Zeit in Jahreszeiten messen müsst, lasst eine jede Jahreszeit all die anderen umfassen,
Und lasst das Heute die Vergangenheit mit Erinnerung umschlingen und die Zukunft mit Sehnsucht.
Aus: Khalil Gibran
„Der Prophet“
Patmos-Verlag 2011, S. 73