Erlebte Zeit 1931 – 1945

von Marlis Föhr

Das vollkommenste und erschreckendste Kunstwerk der Menschheit ist die Aufteilung der Zeit. Elias Canetti

1931 – 1937 Kindheit

Es waren keine ruhigen Zeiten, in denen ich geboren wurde: Massenarbeitslosigkeit gab radikalen Kräften Auftrieb. Die preußische Regierung wurde entmachtet, Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt, Hermann Göring zum preußischen Ministerpräsident ausgerufen. Nach dem Tod Hindenburgs 1934 übernahm Hitler auch formell die alleinige Herrschaft. Meine Eltern versuchten mir trotz aller Wirren eine behütete Kindheit zu ermöglichen und hielten ihre Sorgen vor mir verborgen. Wir bewohnten im Haus meiner Großeltern  die erste Etage. Ihr großer Nutz- und Blumengarten war ideal zum Spielen. Bei schlechtem Wetter gab es viele Dinge, mit denen ich mich in der Wohnung beschäftigen konnte.

1938 – 1942 Volksschule

Nach den Osterferien 1938 ging ich zum ersten Mal in die Schule. Mit meinen ehemaligen Mitschülerinnen habe ich bis heute immer noch Kontakt. Ein brutales Ereignis fiel in diese Zeit: Auf meinem Schulweg kam ich im November 1938 an den rauchenden Trümmern der jüdischen Synagoge und den geplünderten Geschäften unserer jüdischen Mitbürger vorbei. Leider hatte keiner unserer Lehrer den Mut, uns dieses Verbrechen zu erklären.
Mein Vater wurde 1941 zur Wehrmacht eingezogen und durfte an meiner Erstkommunion nicht teilnehmen. Er starb als Soldat an einer schweren Krankheit. Ab Herbst 1942 besuchte ich das Städtische Lyzeum in Bad Godesberg und fuhr mit vielen anderen Jugendlichen mit dem Zug zu meinem Schulort.

1942 – 1944 Lyzeum für Mädchen in Bad Godesberg

Vor Schulbeginn versammelten sich Lehrer und Schülerinnen auf dem Schulhof, um die Nationalfahne zu hissen. Unser Lehrkörper bestand hauptsächlich aus Frauen, da die meisten Lehrer zur Wehrmacht eingezogen waren. Das Fach „Religion“ wurde nicht benotet und wurde erst am Nachmittag angeboten. Zunächst merkten wir in unserem Umfeld nicht viel vom Krieg. Doch schon bald ertönten die Sirenen immer häufiger, und der Schulbetrieb wurde in den Luftschutzkeller verlegt. Im November 1944 schloss die Schule ihre Türen. Die Leitung konnte sich nicht mehr für die Sicherheit ihrer Schülerinnen verbürgen.

1944 – 1945 Bombenangriffe auf Remagen

Am zweiten Weihnachtstag 1944 begannen die schweren Bombenangriffe in Folge auch auf meine Heimatstadt Remagen. Sie galten hauptsächlich der Ludendorff-Brücke, die von Remagen nach Erpel über den Rhein führte. Es blieb nicht aus, dass auch unsere Stadt größere Bombenanteile abbekam. Remagen wurde zu 80 Prozent zerstört. Die Menschen suchten tagsüber Schutz in den nahegelegenen Wäldern und kamen erst bei Dunkelheit wieder zurück. Erst dann verkauften die Inhaber in den Resten ihrer ehemaligen Geschäfte für kurze Zeit ihre Waren. Die gleichen Öffnungszeiten hatten auch Banken, Post und die Kirchen. Wir waren dankbar für jeden Tag, den wir überlebten. Mein Großvater, bereits länger im Ruhestand, musste als Postbeamter wieder seinen Dienst aufnehmen. Da auch Strom- und Wasserleitungen zerstört waren, waren wir auch von den Informationen zum Kriegsverlauf abgeschnitten. Wasser gab es nur an zwei Pumpen in der Oberstadt.

7. März 1945. Das Wunder von Remagen

Wir wurden bereits um fünf Uhr durch Pferdegetrappel und lautes Sprechen geweckt. Hunderte deutscher Soldaten zogen zu Fuß und mit Pferdewagen an unserem Haus vorbei. Einige hatten sich auf unserer Außentreppe eine Pause gegönnt, in der wir sie  mit heißen Getränken erfreuen konnten. Sie alle waren auf dem Weg zur Ludendorff-Brücke, die nach zahllosen Reparaturen wieder geöffnet wurde. Gegen 13.00 Uhr, kurz nachdem der letzte deutsche Soldat aus unserem Blickfeld entschwunden war, kamen die ersten Amerikaner, zunächst zu Fuß mit Schusswaffen im Anschlag, sichernd nach allen Seiten und nahmen den gleichen Weg, den das deutsche Militär kurz vorher genommen hatte. Sie erreichten kampflos die Brücke und überquerten den Rhein. Die deutschen Offiziere, die die Brücke gegen Befehle nicht gesprengt hatten, wurden von einem Militärgericht zum Tode verurteilt.

9. März 1945 Die Evakuierung

Die amerikanische Militär-Führung hatte Hinweise erhalten, dass sich deutsche Truppen zu einem Angriff auf Remagen formiert hätten. Das war der Grund, dass wir uns innerhalb von zwei Stunden am Wirtschaftsamt der Stadt mit nur wenig Gepäck zu melden hatten. Amerikanische LKWs standen bereit, um uns aus der Stadt hinaus zu fahren. „Unser“ LKW hatte unterwegs einen Motorschaden und der verantwortliche Fahrer half uns beim Aussteigen und machte uns klar, dass wir versuchen sollten, im nächsten Ort ein Quartier zu finden. Es ging uns so wie allen Flüchtlingen auf der Welt, wir mussten immer wieder fragen, ob man uns aufnehmen könnte. Ein älteres Lehrerehepaar stellte uns ihr Wohnzimmer zur Verfügung, wo wir auf Matrazen auf der Erde schlafen konnten. Am nächsten Tag bauten amerikanische Soldaten eine Flakstellung auf, und wir mussten mit den Eigentümern auf eine neue Schlafstellensuche gehen. Freundliche Leute nahmen uns mit unserer Zusicherung auf, ihnen in Küche, Haus und Garten zu helfen.

Anfang Mai 1945 Rückkehr nach Hause

Mein Großvater gab keine Ruhe: er wollte unbedingt nach Hause. Da wir ihn nicht alleine gehen lassen wollten, begleiteten meine Mutter und ich ihn auf dem langen Fußweg durch den Wald. Unser Haus war total verwüstet und leer geräumt. Schränke waren verbrannt worden, Porzellan zerschlagen. Ein kleiner Teil unserer Bücher lag in Wasserpfützen. Ich wäre am liebsten sofort wieder zurück gegangen, aber mein Großvater machte uns Mut und glaubte fest, dass wir alles wieder herrichten und das gestohlene Gut wieder ersetzen könnten Es war für alle nicht einfach, aber wir hatten wenigstens noch ein Dach über dem Kopf, das viele Menschen in den Städten nicht mehr hatten. Von unserem Balkon aus konnten wir feststellen, dass die deutsche Militärführung es wirklich versucht hatte, ihre deutschen Mitbürger zu vernichten, indem sie uns noch die neuen „Wunderwaffen“ geschickt hatten. Die Reste davon lagen auf dem Nachbargrundstück.