Grenzerfahrung

von Erdmute Dietmann-Beckert

Die Einladung
Während ich 1956 in Heidelberg Französisch studierte, erhielt ich aus Paris, die Einladung, mit in die Bretagne zu reisen. Ich hatte die Familie mit zwei kleinen Mädchen während meiner au-pair Zeit in Paris kennen gelernt. Und schon einmal war ich mit ihnen im Sommer am Ozean gewesen.
Inzwischen waren wir Freunde geworden. Diesmal war ich eingeladen, mit ihnen die Sommerferien in der Bretagne zu verbringen. Eigentlich hätte ich sie in Alger besuchen sollen, wo der Vater die französische Präfektur leitete.
Das schien aber in diesem Sommer gefährlich zu werden, weil noch immer der Algerische Unabhängigkeitskrieg herrschte. Darum war jetzt das Reiseziel Locquirec, in der nördlichen Bretagne.

Die Reise

Es war ausgemacht, dass ich die Familie in Paris treffen sollte, von wo wir dann mit Madames Deux Chevaux, 2CV, nach Nordwest reisen sollten.
Alles wunderbar. Ich sitze im Nachtzug nach Paris. Kurz vor der französischen Grenze, kommen die Zollbeamten in den Zug und kontrollieren die Pässe. Ich wundere mich, warum der Zöllner meinen Personalausweis so genau anschaut, dann gibt er mir diesen zurück und fragt: „Wohin wollen Sie?“. Ich antworte: „Paris.“ Darauf schüttelt er den Kopf und erklärt mir, dass für mich hier und jetzt die Reise zu Ende sei. Er zeigt auf das Verfallsdatum des Dokuments. Der Zug bleibt stehen, und ich muss mitten in der Nacht auf dem dunklen Bahnhof im Grenzort Forbach aussteigen.

Bei der Bahnhofsmission

Es dauert nicht lang, bis mich ein Zug zurück nach Saarbrücken bringt. Mir war eingefallen, dass ich in meinem Zimmer in Heidelberg einen gültigen Reisepass hatte, der mir zugeschickt werden könnte. Ein Beamter empfiehlt mir, mich an die Bahnhofsmission zu wenden. Eine freundliche Dame empfängt mich, und bringt mich in einen Raum, wo die Post Pakete lagerte und wo ein Feldbett aufgestellt wird. Hier könne ich für den Rest der Nacht schlafen.
Am Morgen darf ich von der Bahnhofspolizei aus meine Freundin in Heidelberg anrufen. Ich bitte sie, mir meinen gültigen Reisepass nach Saarbrücken an die Bahnhofsmission zu schicken.
Den Freunden in Paris hatte ich noch in der Nacht ein Telegramm geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass ich an der Grenze zu Frankreich festsitze und erst am Abend des folgenden Tages ankäme.

Stadtbesichtigung

Foto: Saarbrücken: Bildrechte Barbara Heinze Ulm

Nun beginnt das Warten. Inzwischen ist der Grenzbeamte aufgetaucht, dem ich diesen Aufenthalt verdankte. Er erkundigt sich, ob ich meine Freundin erreicht hätte und ob sie mir den Pass zuschicken könne. Für die Wartezeit bietet er mir eine Stadtbesichtigung als Abwechslung an. Wir setzen uns in ein Café am Ufer der Saar. Bei Kaffee und Kuchen und mit einem wunderschönen Blick auf die Saar bekomme ich einen ersten Eindruck von der Stadt. Ich meine zu verstehen, warum sie Saarbrücken heißt. So viele Brücken sehe ich, die über die Saar führen. Später lerne ich, dass meine Vermutung ein Irrtum ist. Der Name der Stadt ist so nicht zu erklären. Aber das ist ein anderes Thema.
Nach einer weiteren Nacht auf dem Feldbett, ist der Brief mit dem Pass im Bahnhofspostamt angekommen. Das freut nicht nur mich.

Endlich Paris


So schnell wie möglich will ich jetzt, mit dem nächsten Zug nach Paris weiterfahren. Die Freunde erwarten mich und werden mich am Gare de L‘Est abholen.
Bin ich jemals so verdreckt gewesen? Und war ich entsprechend „duftend“? Meinen größten Wunsch, zuerst unter eine Dusche zu kommen, können die Freunde sofort verstehen.
Nach einer langen Nacht in einem französischen Bett, geht es am nächsten Tag im 2CV gen West ans Meer.

Rückblick und Gegenwart

Mit dem Schengener Abkommen 1985 werden in Europa die Binnengrenzen nicht mehr kontrolliert. Bürger Frankreichs, Deutschlands, Luxemburg und den Niederlanden durften innerhalb dieser Länder frei reisen. Die Personenkontrollen entfielen.
In den folgenden Jahren sind weitere Länder dazugekommen und bilden heute die Europäische Union, in der die Reisefreiheit gilt.
In unseren Tagen muss diese jedoch wieder eingeschränkt werden. Krieg und Hunger haben zu viele Menschen auf den Weg nach Europa getrieben.

Dokumentation

Foto: Saarbrücken: Bildrechte Barbara Heinze Ulm

Foto: Europa heute Kennzeichen: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AFlag_of_Europe.svg. Mai 2017.

http://www.spiegel.de/einestages/harkis-im-algerienkrieg-massenmord-an-frankreichs-hilfssoldaten-a-947627.html. Mai 2017.

https://de.wikipedia.org/wiki/Algerienkrieg. Mai 2017
http://www.fr.de/politik/reisefreiheit-europa-ohne-grenzen-a-1148595. Mai 2017.

https://de.wikipedia.org/wiki/Saarbr%C3%BCcken. Mai 2017

https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Union. Mai 2017