von Cornelia Kutter
„Ist der Stress erst mal vorbei, werde ich all die Dinge tun, die ich schon lange tun wollte“. Jeden Tag hat Wolfgang das Maßband gekürzt, das ihm die restlichen Tage bis zur Rente angezeigt hat. Nun ist es endlich so weit.
Berufsleben ade
Der Abschied von dem Chef und den Kollegen ist vollbracht. Die, die ihm ohnehin schon eine ganze Weile quer lagen, muss er erfreulicherweise nicht mehr sehen. Und mit den anderen kann er sich schon noch regelmäßig zum Stammtisch treffen.Jetzt heißt es: planvolles Vorgehen ist das „A“ und „O“.
Wer keinen Plan hat und nichts mehr mit sich anzufangen weiß, fällt in ein tiefes schwarzes Loch. Also gilt es jetzt, das ganze Leben neu zu gestalten.
Eine Orientierungshilfe
Da war diese nette Anekdote, die Wolfgang sehr beeindruckt hat. Schüler sollten im Rahmen eines Sozialkunde-Projektes mit alleinstehenden Senioren etwas unternehmen, damit diese nicht vereinsamen. So besuchte ein Mädchen einen 76-jährigen Mann und bot ihm Abwechslung und Gesellschaft an. Der Mann war sehr gerührt, tätschelte ihren Arm und sagte: „Das ist ja eine ganz bezaubernde Idee, nur leider passt es mir heute überhaupt nicht. Ich bin gleich mit einem Freund zum Tennis verabredet und danach werden wir zusammen essen. Heute Nachmittag treffe ich mich mit einer lieben Freundin, um ihr beim Umzug zu helfen. Und heute Abend werde ich eine Lesung besuchen“. So ein aktives Leben will Wolfgang auch führen. Er überlegt daher, was jetzt in Angriff genommen werden müsste und was es ab sofort Schönes zu tun gibt. Auf zu neuen Ufern. Also, was liegt an?
Was sein muss, muss sein
Die Küche streichen, die Dusche im Bad reparieren, die Scharniere der Terrassentür ölen usw. Die Bäume im Garten müssten auch wieder zurückgeschnitten werden. Etwas Sport wäre ebenfalls gut. Für Nordic-Walking ist er definitiv noch zu jung, also vielleicht leichtes Lauftraining. Am besten ginge das mit einem Hund. Deshalb unbedingt dem Tierheim einen Besuch abstatten und einen ‚besten Freund des Menschen‘ aussuchen. Der muss aber erst einmal erzogen werden – das kann dauern. Na ja, das Training muss dann eben auch noch etwas warten. Einstweilen sollte hin und wieder ein Besuch im Fußballstadion mit seinem Kumpel Rolf als sportliche Aktivität reichen.
Für die defekte Dusche lässt man am besten einen Installateur kommen. „Was, der will um 7:15 Uhr anfangen? Ja ist der denn völlig verrückt? Das ist mitten in der Nacht! Ich wollte doch jetzt endlich mal ausschlafen“.
Erst das Vergnügen, dann die Pflicht:
Jetzt ist aber erst einmal etwas Erholung angesagt. Schließlich hat schon Heinrich Zille einst getextet: „Wie herrlich ist es, nichts zu tun und dann vom Nichtstun auszuruh‘n“.
Eine Kreuzfahrt wäre da genau das Richtige. Man kommt vorwärts, muss kein Hotelzimmer wechseln, hat viel Abwechslung und alle erdenklichen Annehmlichkeiten auf dem Luxus-Dampfer. Allein Gemahlin Doris wird schon bei dem bloßen Gedanken an ein Schiff seekrank und ganz grün im Gesicht vor Ärger, weil ihre bessere Hälfte das eigentlich wissen müsste.
Auf jeden Fall will er jetzt Zeit seiner heimlichen Leidenschaft dem Kochen widmen. Dafür müssen allerdings erst einmal alle benötigten Utensilien völlig neu sortiert und umgeräumt werden, damit er sie auch findet. Nachdem die Schränke und Schubladen neu bestückt sind, stößt die Gattin daraufhin einen markerschütternden Schrei aus.
Wenn der Haussegen schief hängt:
Bevor er seine Angetraute weiter verärgert, geht er ihr ein wenig aus dem Weg und macht eine Wanderung. Um den Kopf frei zu kriegen, wie er meint. Irgendwer hat aber wohl versäumt, ihm zu sagen, dass man in neuen Schuhen leicht Blasen bekommt. Außerdem will er sich ja etwas beweisen und übertreibt mit 25 Kilometern für einen Ungeübten nicht nur ein wenig. Da machen neben dem harmlosen -obwohl schmerzhaften- Muskelkater auch die Gelenke leicht mal Probleme.
Die Ehefrau kommentiert seine Verfassung mit dem Spruch eines unbekannten Autors: „Du bist jetzt in einem Alter, in dem dir der Körper am nächsten Tag ganz leise ins Ohr flüstert: mach das nie, nie wieder“.
Kunst und Kultur müssen sein:
Doris macht den Vorschlag, sich ein Theater-Abo zuzulegen und interessante Kunstaustellungen zu besuchen. Aber schon beim Wort Abo verdreht Wolfgang die Augen. „Da muss ich mich ja schon wieder in den Anzug werfen und außerdem will ich nicht zu einem bestimmten Termin gezwungen sein, ins Theater zu gehen, wenn mir überhaupt nicht danach ist. Und Kunst? Sieh dir doch nur die Bilder von Baselitz an, die stehen alle auf dem Kopf. Damit kann ich nun wirklich nichts anfangen“.
Reisen bildet
Eine Weltreise, das wär’s. Selbst Doris ist von der Idee angetan, solange sie dafür nicht in See stechen muss. Also wird sogleich mit der Planung begonnen. Erst von Deutschland über Island und Grönland nach Kanada, dann USA Ost- und Westküste, weiter über Hawaii nach Australien und Neuseeland, danach einige Inseln in der Südsee – vielleicht Fiji, Rarotonga und Tahiti. Wow, das wäre schön. Die Ernüchterung lässt allerdings bei Veranschlagung der zu erwartenden Kosten nicht lange auf sich warten.
Dafür gibt es Rücklagen
„Da ist unser Tagesgeldkonto und diese Lebensversicherung, die bald fällig wird. Das sollte locker reichen“. Aber auch diese Illusion platzt wie eine Seifenblase. Der Kapitalertrag der Geldanlagen ist nach Abzug aller Verwaltungskosten nur minimal, ganz anders als die bei Abschluss der Verträge abgegebene Prognose besagte. Der Zinspolitik von EZB-Chef Mario Draghi sei Dank. Und dann sind da noch die Renten, einst von Ex-Minister Blüm als ‚die Renten sind sicher‘ proklamiert, sind heute erheblich -und nicht nur vom Kaufwert- geschrumpft. Zudem steigen die Preise für Anschaffungen, Reparaturen und Lebensunterhaltskosten in höherem Maße als die Renten. Also das Ersparte für Notfälle und ggf. für ein neues Auto zurücklegen und nach etwas Anderem suchen, das weniger Kosten verursacht.
Etwas Passendes muss sich doch finden lassen
Es muss etwas geschehen. Doris liegt ihm ständig in den Ohren, er solle endlich etwas Sinnvolles mit seiner Zeit anfangen. Damit er ihr nicht den ganzen Tag im Weg steht oder als leidender Fußkranker ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung einfordert und ihr das Leben zur Hölle macht.
Wie wäre es mit einem Senioren-Gaststudium an der Uni in Literatur und Philosophie oder mal wieder Englisch auffrischen an der Volkshochschule. Selbst Töpfern wäre noch eine Bereicherung. Vielleicht ließe sich ein Instrument an der Musikschule erlernen. Sie denkt dabei an Gitarre oder noch besser an Keyboard, weil man das auch mit Ohrhörern üben kann. – Au ja, Schlagzeug und Saxophon würden ihm gefallen, wie er verlauten lässt. Da hilft nicht mal Ohropax. Das kann wirklich kein Mensch aushalten. Seine Frau ist einem Nervenzusammenbruch nahe.
Ein gutes Beispiel liegt so nahe
Doris hat im Rahmen einer Altersteilzeit mit ihrem Berufsleben schon vor längerer Zeit abgeschlossen. Nun werkelt sie im Garten, trifft sich mit Freundinnen zum Klönen oder Shoppen und besucht ab und zu ein Konzert. Zu Coldplay kriegen Wolfgang allerdings keine zehn Pferde, aber ins Kino geht er hin und wieder mit.
Sie hält sich mit Aqua-Aerobic fit und engagiert sich außerdem bei der ‚Tafel‘.
Ab und zu ein paar Tage an der See oder eine Bus-Tagestour sind ihr genug. Sie ist mit ihrem Leben zufrieden.
Selbst das Richtige finden
Auch er will nicht weiter herumeiern, sondern endlich etwas Nachhaltiges angehen, das wirklich zu ihm passt. Gutgemeinte Ratschläge von anderen hat er genug gehört. Tochter Tina wohnt mit ihrer Familie zu weit entfernt als dass er regelmäßig seinen Enkel Julian bespaßen könnte. Und Computerspiele halten einen auch nicht den ganzen Tag bei Laune. Nein, er will sich irgendwie ehrenamtlich betätigen. Nur etwas Soziales mit Alten und Kranken ist ihm zu deprimierend. Da wird ihm sein eigenes Ende und der körperliche Zerfall ständig vor Augen geführt. Er braucht etwas, das seinen Fähigkeiten entspricht. So ruft er seinen ehemaligen Chef an und fragt, ob er nicht in Teilzeit ohne Bezahlung in seinem alten Job aushelfen kann.
Doris sieht dem gelassen entgegen. Allerdings hat er jetzt nicht einmal mehr Zeit, den Müll rauszutragen. Aber Rentner haben ja sowieso nie Zeit