Geteiltes Leid

von Barbara Heinze, nach den Aufzeichnungen einer Freundin

Beate Regine hieß es, das Kind, mit dem ich meine Kindheit teilte. Das heißt, sie teilte auch die ihre mit mir. Ob uns das gefiel, danach wurde nicht gefragt. Warum auch? Es lag nahe, denn Beat‘, wie wir sie nannten, war behindert und der eineinhalbjährige Altersunterschied zeigte eine positive Seite, da ich – obwohl die Jüngere – ihr immer voraus war in der gesamten Entwicklung, aber eben nie zu weit voraus. Wir wurden zusammengespannt.

Kindergarten

Im Kindergartenalter war ich greifbar, wenn die drei älteren Geschwister in der Schule waren. Sehr früh trug ich die Verantwortung für sie, allerdings kenne ich auch eine mir erzählte Geschichte, in der es sich umgekehrt verhielt: Da ich, kaum zweijährig, das Wasser außerordentlich liebte, selbst aber keinen Wasserhahn erreichen konnte, schlich ich zur  – bei so vielen Kindern – stets offenen Klotüre und panschte vergnügt im stehenden Wasser in der Toilettenschüssel. Beat‘, sie lernte mit vier Jahren die ersten Worte sprechen, zog meine Mutter am Rockzipfel herbei, und schnell fand das ganze Vergnügen unter strengen Ermahnungen der Mutter ein Ende. Kurzum, Beate „räschte“ Diese Gabe hat sie, ermuntert durch den Erfolg nicht nur beibehalten, sondern bis zur Perfektion gesteigert. In ihrer Allgegenwart war es schwierig an harmlose und sonstige Vergnügungen zu kommen. Meine älteste Schwester versuchte allerlei Tricks bis hin zur Erpressung, aber Beat‘ hatte weder ein Gedächtnis für gemachte Versprechen und noch weniger Sinn für unser Bedürfnis nach ungehindertem Spiel.

Ihre Ohren waren taub, noch niemand wusste das zu dieser Zeit, um so wacher war ihr Blick, nein, die Augen zeigten keine Schwäche. Es war natürlich, Beate wurde die bestgehasste Person in unserer Geschwisterreihe. Das blieb auch meiner Mutter nicht verborgen, sie nahm das Kind „in Schutz“. In Schutz nehmen, dieser Begriff fiel täglich ein dutzendmal und erweckte in mir das Gefühl der Benachteiligung. Mit der Zeit schickte ich mich in dieses Los, während meine ältere Schwester hässliche Schimpfwörter, die auch wir benutzten, erfand und Beat‘ ab und zu genüsslich in die Backe kniff. Auch Beat‘ fand Techniken, sich diesen quälerischen Spielen zu entziehen, in dem sie anfing „wie am Spieß zu schreien“ – so sagten wir wörtlich – , wenn man noch Schritte von ihr entfernt war. Erfolg hatte sie damit immer: Meine Mutter eilte herbei und machte jeden „nieder“, der gerade in Sichtweite war, ohne nach einem Sachverhalt zu fragen.

Schule

So wuchsen wir heran, die Einschulung stand vor der Tür und meine Eltern beschlossen, das „Kind“ mit mir einzuschulen. Solche von meinen Eltern gefassten Beschlüsse zu überdenken, fiel mir nicht ein. Ich hatte genug zu tun, mir die übertragenen Aufgaben zu erfüllen und bei Versagen mit den Folgen fertig zu werden.

Von Schrecken gelähmt, erlebte ich eine Unterrichtsstunde, in der unser Lehrer diesem tauben Kind das Rechnen beibringen wollte. Er war sogar der Pate dieses Kindes, ein frommer aber jähzorniger Mann, vor dem wir solchen Respekt hatten, dass wir ihn mit „Herr Habich“ ansprachen. Die Begriffslosigkeit meiner Schwester brachte diesen Menschen sehr schnell in größte Wut. Noch nie hatte ich einen solchen Zornesausbruch erlebt, und so war auch ich vor Entsetzen nicht in der Lage, die einfachste Rechenaufgabe zu lösen. Ich berichtete zu Hause was geschehen war und bemerkte nur, dass meine Eltern sich bedeutsame Blicke zuwarfen. Der Schulalltag ging dahin. Täglich fehlte Beate irgendein anderes Schulutensil. Mutter schimpfte, wo sie immer neue Griffel, Mäppchen, Hefte und dergleichen herbringen sollte. Ich mochte diese wiederkehrende Schelte nicht länger ertragen und nahm mir vor, besonders gut aufzupassen. Konnte der neue, nicht weniger mild gesonnene Lehrer, den Rohrstock in greifbarer Nähe, erzählen, was er wollte: Heute werde ich ihn erwischen, den Dieb, und ohne Gnade stellen! Das „ohne Gnade stellen“ war schnellvergessen. Mir genügte zu wissen, wem die Hand gehörte, die nach vorne griff, um sich zu holen was ihr beliebte. Zum Nachdenken blieb auch keine Zeit, denn ohne zu begreifen wie mir geschah, stand ich vorne am Pult, musste die Hand ausstrecken und empfing zwei saftige Tatzen für meine Unaufmerksamkeit. Nun traf mich selbst, was ich nur vom Zusehen kannte, was mir wahnsinnige Angst einjagte. Welche Anstrengungen habe ich unternommen, um solchem Unheil zu entgehen.

Gottes Fügung

Das war wohl Schicksal – Beate und ihr Leben  – wie Nachbarn und Fremde so sagten, meine Eltern und ihre Freunde nannten dies „Gottes Fügungen“. Mit dem so ganz menschlichen Charakter dieser Fügungen konnte ich nie ganz zurechtkommen. Es blieb nicht aus, das ich zu Hause Erfolg und Misserfolg meldete. Meine Mutter war zufrieden. Die ungerechten Tatzen waren als Ausgleich für vergangene oder noch kommende Untaten einzustecken. Wie gut wusste ich doch was sie damit meinte. Kam mir auch nur einmal der Gedanke, Beat‘ abzuschütteln, ihr nicht hilfreich beizustehen oder gar offen zu protestieren, dann genügte, wenn meine Mutter mir in Erinnerung brachte, wie dankbar und froh ich sein könne, über einen gesunden Geist zu verfügen! Offenbar erkannte ich schon damals, wie gering meine Kümmernisse im Vergleich zu ihrem – Beates – Los seien. Ich wollte mir nicht einmal in Gedanken ausmalen, was das bedeuten würde: Dumm sein, verspottet werden, abgelehnt, isoliert! Lebte ich doch täglich im Schatten eines solchen Daseins.

Rückblick

Wie schwer die Leiden meiner Schwester in ihrer Kindheit waren, ich wage dies nicht zu ermessen, aber als ich bereits verheiratet, erlebte, wie Beate achtundzwanzig jährig, das erste Mal eine Uhr ticken hörte, wurde mir ein kleiner Schimmer davon bewusst. Immer, immer wird dies in meinem Gedächtnis bleiben. Beate Regine=die glückliche Königin?

Heute lebt Beate in einem Heim in meiner Nähe. Sie schreibt fleißig Briefe. Erscheint ihr einmal die Zeit zu lang bis meine Post oder ein Besuch eintrifft, mahnt sich mich auf ihre Weise: “Bis du gestorben soll ich dir Kranzt schiecken“. Zum Muttertag bekomme ich meist einen Strauß, denn so war‘s schon immer, wenn Mutter nicht da war, trat ich an ihre Stelle. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Der Strauß berührte mich. Dennoch, die Rolle fällt mir noch immer schwer. Glücklich bin ich darüber, dass meine Geschwister dieses Los mit mir teilen.

Die Schwester der Verfasserin wurde im Februar 1934 geboren. Wohl war man sich bewusst, dass dieses Kind nicht normal war, aber genauso gut wusste man, dass behinderte Kinder im „Dritten Reich“ beseitigt wurden. So wurde jeder Arztbesuch vermieden. Hirnorganisch ergibt sich für die Behinderung von Beate Regine kein Anhaltspunkt. Eine 80%-ige Hörschädigung wurde erst mit 20 Jahren festgestellt und durch ein Hörgerät verbessert.