Meine Großmutter.

von Liane Rohn

Der Lebensweg meiner Großmutter ist sicher sehr ähnlich dem vieler Frauen ihrer Generation und mancher wird sich in diesen Erinnerungen wiederfinden.

Abschied

Marie war knapp 14, und damit Schulschluss in der Volksschule im vogtländischen Grünberg. Ihr Bruder Richard lernte einen Beruf, sie wurde nach Thüringen geschickt in eine vornehme Familie, um als „Stubenmädchen fürs Leben vorbereitet zu sein“. Weitsichtig zwar, aber schade, nicht auch einen Beruf erlernt zu haben. Das war Ende des19.Jahrhunderts nicht nur in den Familien der Handwerkerschicht  üblich. Für Marie, aus der Familie hinaus in die Welt geschickt, hat es Abschiedstränen und -schmerz bedeutet. Aber auch eine finanzielle Entlastung, kostete ja schon der Bruder Geld, denn zu jener Zeit mussten Lehrmeister bezahlt werden. Mein Vater, Maries Zweitgeborener, war Halbwaise, und die Lehre hat Marie finanzieren müssen, und das noch im 20.Jahrhundert.
Zurück zu Marie, die nun in einen herrschaftlichen Gutshof derer von Stein-Familie kam, in der sie all das lernen sollte und auch wollte, was ihr daheim nicht geboten werden konnte. Eines missfiel ihr anfangs: sie war nicht mehr Marie sondern Martha, weil es schon eine Marie beim “Gesinde” gab.

Träume

Ihre Mutter, meine Urgroßmutter, hatte an manchen Abenden und vorm Einschlafen, der kleinen Tochter Geschichten erzählt, erfundene oder gelesene Märchen, von Prinzessinnen und Königen, Burgen, Schlössern und Herrschaftshäusern. Die Mutter spürte  bald, dass Marie über viel Fantasie verfügte, romantische Vorstellungen vom zukünftigen Leben zu haben schien. Und nun kam sie in eine Umgebung, die ihren Kindheitsträumen und Mutters Erzählungen nahe schien.

Entwicklung

Prinzessin konnte sie nicht werden, aber sie lernte die Gepflogenheiten eines herrschaftlichen Hauses, die vornehme Atmosphäre der Familie von Stein kennen, und sie bereiteten dem Mädchen aus einfachen Verhältnissen keine Berührungsangst. Geboren und aufgezogen mit Liebe und Zuwendung. Ihr Wille und ungewöhnliche Anpassungsgabe, ohne unterwürfig zu sein, erstaunte nicht nur ihre Mitbediensteten sondern besonders ihre Herrschaft.
Geradezu entzückt von ihrer Anmut und frühen Selbstsicherheit avancierte sie zur Zofe der Freifrau von Stein, eine Vertrauensstellung der Haustochter ähnlich. Es begann eine dreizehnjährige Verbindung, die Bildung des täglichen Umgangs und geistige Entwicklung neben ihrer dauernden Bereitschaft für die Dame des Hauses beinhalteten.

Ehe

Es blieb nicht aus, dass sie eines Tages einem Mann begegnete, der ihr gefiel und von dem sie verehrt und begehrt wurde. Nicht ahnend, welches Schicksal beide erwartete. Trotz Zuneigung, ja fast familiärer Zugehörigkeit zu den von Steins begann für die zwei jungen Menschen eine siebenjährige Zeit der Fast-Trennung, denn die „Herrschaft“ bestand darauf, dass der zukünftige Mann ihrer Haustochter vor einer Heirat einen siebenjährigen Militärdienst abzudienen hatte. Martha, und Emil, mein Großvater, bestanden diese Prüfung, um 1899 endlich heiraten zu können.

Witwe

Fast wiederholt sich die Familiengeschichte: zwei Kinder  wurden hineingeboren in eine Handwerkerfamilie, eine Tochter, Tante Hilde und ein Sohn Albert,  unser Vater. Ihren Vater verloren sie schon Anfang der zwanziger Jahre, gestorben an den Folgen einer Krankheit aus dem ersten Weltkrieg herrührend.
Tante Hilde, verheiratet noch zu Großvaters Lebzeiten, war Albert der Jüngere noch in der Lehre. Witwen- und Halbwaisenrente, wie wir das heute kennen, bekam sie in wenigen Reichsmark. Kreativ, lebens- und willensstark dank ihrer guten Erziehung baute sie sich einen kleinen Krämerladen im Dorf auf.

Wally und Albert

Unsere Eltern lernten sich sehr jung  kennen, 15 waren sie gerade mal Jeden Wochentag fuhr Wally mit dem Fahrrad an Alberts Elternhaus  vorbei, Er sprach sie irgendwann mit großer Zurückhaltung an, lud sie schriftlich zu einem Dorffest ein: „Wertes Fräulein Wally“ usw. Gesiezt haben sie sich einige Jahre! Martha mochte das Mädchen, ihre Mutter wollte diese Bekanntschaft, aus der mehr zu entstehen schien, nicht. Sie hatte für ihre Tochter etwas „Besseres“ vor, den jungen Pfarrer der Heimatgemeinde und nicht einen Handwerker. Auch waren ihr die „Verhältnisse“ etwas zu ärmlich, gegenüber ihrem großen, zwar auch ländlichen Kolonialgeschäft, Pferdefuhrgeschäft und Personal. Aber Albert, unser Vater war geduldig und Wally sehr hartnäckig, und der Pfarrer ihr gleichgültig. Schließlich wurde Albert  in die Familie eingeführt, und irgendwann als rechtes neues Familienmitglied aufgenommen. Unsere Eltern heirateten 1928. 1929 wurde mein Bruder Wolfgang geboren, der die andere Großmutter noch erlebte, ich aber, drei Jahre später geboren, habe sie nicht mehr kennengelernt. Ein Schlaganfall beendete ihr Leben noch vor dem 60sten Lebensjahr.

Oma.

Das Haus,1795 erbaut, von meinem Großvater vor dem ersten Weltkrieg erworben, in dem auch mein Bruder und ich geboren wurden, noch heute unter Denkmalschutz stehend, war mehr als hundert Jahre  Mittelpunkt der Familie.
Aufgewachsen und gelebt im Haus der Großeltern, einer kleinen Großfamilie; Großmutter, Vater, Mutter, Bruder und ich. Großgezogen und erzogen wurden Wolfgang und ich von der Großmutter. Ja, unsere Mutter ging arbeiten, war zunächst Fabrikarbeiterin und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer Modelleurin für Schuhe. Das war zu jener Zeit ungewöhnlich, jedoch möglich, weil es eben eine wunderbare Oma gab. Der kleine Laden wurde aufgegeben, Haus, Garten und wir zwei Enkel waren ihr Lebensinhalt. Zwei Enkel, einige Jahre älter als wir, Söhne von Tante Hilde, wohnten  5  Kilometer entfernt, sodass Besuche regelmäßig und familiär eng verbunden waren.

Wissen

So, wie die Urgroßmutter ihre Familie  umsorgte, tat sie es gleich, und später  mit uns, den Enkeln. Es wurde viel vorgelesen, erzählt, die Natur und alles was sich in der Umgebung des kleinen Dorfes an Wissenswertem bot, versuchte sie, uns zu vermitteln. Der nahe Wald, das Eichholz genannt, war das ganze Jahr über ein wichtiger Raum, uns auszutoben, Beeren, Baumarten, Pilze, Veilchen und Maiglöckchen kennen und achten zu lernen. Reisig, das dürre Geäst der Fichten, wurde ausgeholzt, war wichtiges Brennmaterial für den hauseigenen Backofen. In den nächstgelegenen Dorfteichen wurde gebadet, erste Schwimmversuche unternommen, und im Winter, zugefroren und verschneit auf Schlittschuhen versucht, Fangen zu spielen.
Schulaufgaben gehörten kontrolliert, und so beschwerlich es  war, uns in den jeweils ersten vier Jahren in die 4 km entfernte Volksschule zu schicken, gab es kein Murren, es war wie es war.

Sorgen

Großmutter, eigentlich eine „Reingeschmeckte“, hatte eine Freundin, sie stammte aus Bayern und, mit dem reichsten Bauern im Dorf verheiratet, hielt sie im Winter   mittwochs zwei Stunden Visite ab. Das waren Kaffee- oder Teestunden. Mich durfte Großmutter mitbringen, weil ich still und handarbeitend da saß und zuhörte, was  gesprochen wurde.
An dieser Stelle weise ich auf mein Buch „Zufälle“, hin in dem ich ein  prägendes Erlebnis schilderte, ein Unfall. Auf dem Weg zu einer solchen „Visite“  riss ich mich von Großmutters Hand los, um auf die andere Straßenseite zu gelangen und wurde von  einem heranfahrenden Auto erfasst. Großmutter fühlte sich ein Leben lang schuldig. Eine schwere Gehirnerschütterung hatte mir lange Jahre immer wieder Kopfschmerzen bereitet.

Krieg

Der zweite Weltkrieg brachte unserer Familie schmerzliche Einschnitte. Der älteste Enkel, der die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte, fiel 1942 in Russland. Mein Vater war gerade ein halbes Jahr vorher eingezogen  und nach Russland geschickt worden. Jetzt trugen Mutter und Großmutter alle Verantwortung für die  Familie Als der zweitälteste Enkel, nach Notabitur 17jährig zur Waffen-SS kam und schon nach wenigen Wochen 1944 getötet wurde, „rückte“ der letzte Enkel, mein Bruder Wolfgang mit 15 Jahren von der Schulbank weg zum Volkssturm ein. Dazu ganz spärliche Post vom Vater. Nach dem Rückzug der Wehrmacht aus Russland war er nach Italien geschickt worden, und bis 1947, meiner Konfirmation, kam Ende des Weltkrieges eine  maschinengeschriebene Karte aus Italien. , dass unser Vater „im Lager Ghedi“ lebt.

Lebensabend

Die Großmutter hatte so viele Verluste ihrer Liebsten erlitten, sie hatte die Trauer klein an Gestalt und gebückt gemacht. Als Tage vor Kriegsende mein Bruder unversehrt heimkehrte, und 1947 unser Vater, Großmutters Sohn, aus der Gefangenschaft in Frankreich krank und ausgezehrt entlassen wurde, gab es ein großes dankbares Aufatmen, aber unsere Großmutter war körperlich gezeichnet. Aufgehoben in unserer wieder kompletten kleinen Familie, folgten nun Jahre des Erwachsenwerdens. Ich, die Enkelin und Wolfgang der einzige Enkel, gingen unserer Wege. Nach Schule, Ausbildung, Studium und Berufswahl waren wir sehr früh aus der Familie ausgeflogen. Unsere Großmutter umsorgt vom Sohn und Schwiegertochter, lebte in wohlverdienter Ruhe umgeben von jungen und mit ihr altgewordenen Nachbarn. Wenn wir zwei Enkel die Familie besuchten spürten wir, wie sehr sie es genoss, uns um sich zu haben, wenn auch meist nur für wenige Tage. Die Silberhochzeit unserer Eltern und Verlobung meines Bruders erlebte sie zugleich mit ihrem 80sten Geburtstag noch bei geistiger Regsamkeit. Als Marie, meine Oma, die für die meisten Menschen nur die Martha war, 82ährig an den Folgen eines Treppensturzes starb, folgten ihr bei der Beerdigung längst nicht so viele Menschen, die sie eigentlich gemocht und auch verehrt hatten. Nur wenige kannten Marie verwitwete Jahn geborene Unglaub,  wie es in der Todesanzeige stand – preußisch ordentlich.