von Bernhard Bräuer
1934, kaum war ich 5 Jahre alt, da begann die Arbeit auf den Straßen und in den Parkanlagen. Der Herbst eignete sich gut dazu, mit Kastanien Wagen, Pfeifen und Kastanienmännchen zu produzieren und diese dann an Ständen am Straßenrand zu verkaufen. Dazu war eine organisierte Arbeitsteilung nötig.
Erste Einblicke in die Arbeitswelt
1936, kaum war ich in der Schule, bekam ich nach Erledigung der Hausaufgaben Arbeit in einem der zahlreichen Familienbetriebe in Apolda, der „Stadt der Strick- und Wirkwaren”. Neben den Großbetrieben waren in fast jeder Straße Wirkwarenbetriebe im „Hinterhaus”, einem Nebenhaus des Wohnhauses, Maschinen zur Herstellung von Wirkwaren untergebracht.
Meine erste Beschäftigung in dieser Arbeitswelt war die Herstellung von Kordeln, welche in die Trachtenjacken eingezogen wurden. Dazu musste ich eine im Hof aufgestellte hölzerne Maschine bedienen. Sie bestand aus einem großen hölzernen Rad, das mit einer Handkurbel angetrieben wurde und die über den Hof gespannten und oft mehrfarbigen Garnstränge in Kordeln zusammen drehte. Auch musste ich mit dem Handwagen von der Färberei eingefärbte Garnstränge abholen. Die mussten gut abgedeckt werden, damit die Konkurrenten in der Nachbarschaft nicht sehen konnten welche, Farben ihr Nachbar verarbeitete. Die Konkurrenz war groß, an jeder Tür eines Strickwarenbetriebes war ein großes Schild angebracht: „Betreten verboten!”
Verpflichtung zur Landarbeit
1938 bis1943 mussten wir mit der Schulklasse in der Landwirtschaft arbeiten. Mit Rüben verziehen, Hädrich (Unkraut) ausrupfen, Kartoffeln auflesen und Obst pflücken war der Spaß an der Arbeit verflogen, obwohl wir für die landwirtschaftliche Arbeit 25 Pfennig pro Stunde und zu Mittag eine saure Gurke und eine Scheibe Brot bekamen. Nachdem wir abends dreckig und müde von den Feldern kommend mit dem Pferdefuhrwerk zum Gutshof gefahren wurden, reihten wir uns vor dem Fenster der „Gutsherrin” auf, die uns den Tageslohn auf die ausgestreckte Hand zählte. Da wir ja auch das Schulpensum erfüllen mussten, dauerte diese „Zwangsarbeit” immer nur einige Tage.
Während der Sommerferien mussten wir 2 Wochen in der Landwirtschaft arbeiten. Jeden Morgen musste ich die Herde der „Harzer Braunen” durch den Ort auf die kleinen Waldwiesen in den Bergen treiben. Die Probleme kamen abends: die Kühe aus dem Wald zusammen zu treiben und dann auf dem Heimweg von einem Teich weg zu bekommen. Im Ort angekommen, galoppierten sie oft durch die Straßen, um in ihren Stall zu kommen
Punkte sammeln
Um die „Post nicht zu überlasten”, beförderte sie keine Kirchensteuerbescheide mehr und die Pfarrhelferin fragte meine Mutter, ob ich die Steuerbescheide vom Finanzamt zustellen könnte. Meine Mutter bejahte diese Bitte und wochenlang, nach den Schularbeiten, stapfte ich durch die ganze Stadt um die ca.1000 Steuerbescheide in die Hausbriefkästen zu tragen. Das hätte mit der Post 20,00 Mark gekostet, also war mein Lohn für die Arbeit: 20,00 Mark.
Mittwochs bekamen wir keine Hausaufgaben, dafür wurden wir nachmittags „Lumpensammler”. Oft zogen wir mit einem Handwagen durch die Straßen und gröhlten: „Eisen, Lumpen, Knochen und Papier, ausgekämmte Haare sammeln wir”. Die eingesammelten „Altwaren “wurden in einem ausgeräumten Klassenzimmer abgeliefert, die Schüler dieser Klasse hatten das „Notabitur” gemacht. Oft kam aus dem Zimmer ein fürchterlicher Gestank von den alten Knochen, bis diese endlich abgeholt wurden. Der Lohn für diese Arbeit waren „Punkte” für die man sich dann für Vorzugspreise Lehrbücher in einem der zwei Buchgeschäfte kaufen konnte.
Hilfsdienst am Bahnhof
Eine weitere Arbeit war die eines „Dienstmannes” beim „Bahnhofshilfsdienst”. Da wir Sonntags ausschlafen konnten, mussten wir jeden Samstagabend Nachtschicht machen und in einem kleinen Zimmer im Bahnhof die ganze Nacht durch bereit stehen, ankommenden und oft ausgebombten Reisenden ihr Gepäck zu tragen und in der verdunkelten Stadt ihre Unterkünfte zu finden. An einem kleinen Kanonenofen, den wir mit Kohlen von den Lokomotiven beheizten, konnten wir uns dann etwas aufwärmen. Wenn Lazarettzüge ankamen brauchten wir vier Schüler, um jeden auf einer Tragbahre liegenden und oft vor Schmerzen schreienden Verwundeten in die Krankenwagen zu transportieren. Das war eine von allen sehr gefürchtete Arbeit, aber wer sollte es sonst tun.
Ab in die Rüstung
Im Herbst 1944 sagte uns der Klassenlehrer, dass kein Unterricht mehr stattfindet und dass wir uns beim Arbeitsamt melden sollten, um in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Ich hatte Auswahl zwischen drei verschiedenen Betrieben und ich entschied mich für Arbeit in den WELLA WERKEN. Nachdem ich dem Betriebsleiter sagte, dass ich elektrische Schaltpläne lesen kann und Radios gebastelt hätte, holte er einen elektrischen Schaltplan. Er schien beindruckt zu sein von meinen Kenntnissen, denn er sagte mir, dass ich am nächsten Tag anfangen könnte am Prüffeld zu arbeiten. WELLA produzierte zu dieser Zeit Tornisterfunkgeräte für die Wehrmacht. Nach kurzer Einführung durch den Abteilungsleiter begann ich meine Arbeit an einem von zwei Prüffeldern. Es war meine Aufgabe, Modulationsbausteine auf Fehler zu prüfen und die oft durch fehlerhafte Lötungen verursachten Fehler zu finden und zu beheben. Es war eine interessante Arbeit, da man die Erfolge direkt sehen konnte, was eine bestimmte Genugtuung gab.
In der Lehre
Im Sommer 1945 waren die Schulen noch immer geschlossen, Biologie- Physik- und Chemiezimmer von Besatzungssoldaten geplündert und mein Vater war in Kriegsgefangenschaft. Um keine Zeit zu verlieren, begann ich eine Lehre als Elektroinstallateur. Was für eine andere Arbeitswelt! Was ich bisher als Arbeit angesehen hatte, war gegen die Arbeitswelt der Lehrzeit ja nur Spielerei gewesen. Für mich bedeutete es: 4 Tage pro Woche täglich 10 Stunden, samstags 9 Stunden arbeiten und an einen Tag für 8 Stunden zur Berufsschule gehen.
Die Arbeit war sehr vielseitig und umfasste alle Gebiete von Wechsel-und Gleichstrom bis Drehstrom, Niederspannungsanlagen bis zu Rundfunk-und elektrischen Haushaltsgeräten und Antennen.
Arbeitssicherheit und Unfallschutz waren Fremdworte. Man musste ungesichert auf steilen Dächern herumkriechen. Der Unfallschutz bestand aus einem Ratschlag vom Lehrmeister: „Pass auf, dass du nicht im Nassen stehst, sonst geht der Strom durchs Herz, stell Dich auf einen alten Pappkarton”!
Nach 2 ½ Jahren bekam ich den Gesellenbrief und der Lehrmeister verlor eine billige Arbeitskraft.
Als Geselle
Im Frühjahr 1948 begann ich mein Praktikum bei einer „Sowjet A.G.”, die Radsätze für sowjetische Eisenbahnen produzierte. Die Werksanlagen gehörten den Klöcknerwerken, waren zur Demontage enteignet worden, gleich danach aber als „hochherziges Geschenk der Sowjetmenschen” „den sozialistischen Brüdern in Deutschland“ belassen worden.
Am ersten Tag arbeitete ich als „Nietenjunge” bei der Konstruktion einer neuen Werkshalle, die für die Produktion von Radsätzen für sowjetische Waldeisenbahnen zur Holzabfuhr gedacht war. Die Arbeit war schmutzig, schwer und gefährlich und ich war froh, als ich bald in der Produktion von Radsätzen an Werkzeugmaschinen arbeiten konnte. Die Maschinen waren erst während des 2. Weltkrieges gebaut und hatten einen Aufkleber: „Kriegsausführung, Güte unverändert”.
Das Rohmaterial kam aus dem Ural und von Krupp in Magdeburg und die Fertigproduktion war in Akkordarbeit. Es war „Progressiver Akkord“, das bedeutet, dass man für das 1. fertige Werkstück 2,00 Mark verdiente, für das 2. Werkstück 4,00 Mark, für das 3. Werkstück 8.00 Mark.
Arbeit im Akkord
Die Maschinen wurden von Facharbeitern bedient, ich wurde angelernt und da es Stückakkord war, verdiente ich das Gleiche wie ein Facharbeiter. An einer Stirnwand der großen Fabrikationshalle war ein großes farbiges Bild von Lenin mit dem von ihm geprägten Spruch: „Lernen, lernen und nochmals lernen!”. An der anderen Stirnwand war eine 5×5 m große Wandtafel angebracht, auf welcher die Namen aller im Akkord arbeitenden Facharbeiter aufgeführt waren. Täglich mussten die Betriebsmaler die Leistungen der Produktionsarbeiter graphisch darstellen. Die Tafel wurde die „Rennpferdtafel” genannt. Ich hatte mich schnell eingearbeitet, war Eines der „schnellsten Pferde” auf der Wandtafel und hatte monatelang wöchentlich eine Prämie bekommen. Da ich mich politisch nicht beteiligen wollte, war das auch meine einzige Chance, zum Studium zugelassen zu werden. Das Abitur hatte ich inzwischen in Abendschulkursen nachgeholt. Auch hatte ich oft zwei und manchmal drei Schichten in der Produktion und auch als Betriebselektriker gefahren.
Ideologische Null – kein Studium
Kurz danach machte und bestand ich die Aufnahmeprüfung an der Maschinenbauschule in Magdeburg und auch an der Universität, damals schon „Arbeiter- und Bauernfakultät” Halle. Vor Beginn des 1. Semesters musste ich aber erst noch vor eine politische Kommission. Ich war zuversichtlich wegen der gewissenhaften zwei Jahre langen und intensiven Arbeit, die sich mit der des Sozialistischen Arbeitsvorbildes Hennecke im sächsischen Uranbergbau vergleichen ließ.
Im Juli 1950 saß ich in Wernigerode vor einer etwa 14 köpfigen Kommission, die aus Vertretern aller politischen Parteien und Organisationen bestand. Der Vorsitzende fragte mich viele persönliche Fragen wie Beruf meines Vaters, meine Beteiligung in politischen Organisationen u.s.w. Das Urteil lautete: „Sie sind ja überhaupt noch nicht ideologisch ausgerichtet. Ein Ingenieur kann nie ein guter Ingenieur im sozialistischen System werden, wenn er nicht ideologisch überzeugt ist!”
Die ganze Plackerei war also vergebens. Ich besprach meine Zukunftspläne mit meinen Eltern und plante meine Reise über die „Grüne Grenze”.