Mit Büchern leichter durch das Leben

von Eleonore Zorn

Buchstaben sind eines der Wunder, mit denen uns Menschen eine neue Welt eröffnet wird, sobald wir lesen und schreiben lernen. Ein Kind erfährt mit Staunen, dass hinter diesen Zeichen Botschaften versteckt, Geheimnisse zu finden und fremde Welten zu entdecken sind

Mit Büchern abtauchen aus der Wirklichkeit

Mich faszinierte von Anfang an, dass man aus Büchern Antworten bekommen konnte auf fast alle Fragen. Vor allem auch in der schwierigen Zeit der Pubertät, als neue Unsicherheiten und Wissenslücken auftauchten, fand ich dort manche Erklärung, die ich damals weder von der Mutter, noch von anderen Erwachsenen hätte erhalten können. Aufklärung war damals noch nicht in dem Maße üblich wie heute. Es war selbstverständlich kein Schulfach, sondern eher ein Tabu. Für meine Generation erschloss sich so manches Geheimnis des Lebens aus Büchern. Ich las von Anfang an querfeldein, da ich mir den Lesestoff ausleihen musste. Als Flüchtlinge, die ohne Gepäck gekommen waren, hatten wir außer einer Bibel und einem christlichen Hausbuch keine Lektüre.

Die Großmutter als wandelndes Märchenbuch

Zeitungslesen

Vor meiner Einschulung hatte ich kein einziges eigenes Kinderbuch. Auf Märchen musste ich jedoch nicht verzichten, denn meine Großmutter lebte mit uns in der Familie und war eine sprudelnde Quelle von Geschichten und Märchen. Sie scharte uns in der Dämmerung immer um sich, wenn sie neben dem sogenannten „Sparherd“ saß, den man mit Holz befeuerte. Sie legte ein Holzscheit auf, nahm einen oder zwei Eisenringe von der Herdfläche weg, damit wir die Flammen sehen konnten. Wir wickelten uns in die vielen Falten ihrer langen Röcke und die Märchenstunde begann. Sie erzählte von unserem früheren Zuhause (zu der Zeit hieß es noch Jugoslawien) und aus ihrer Kindheit in dem kleinen deutschsprachigen Dorf in der Batschka, wo sie als Älteste von 12 Geschwistern lebte. Grimms Märchen endeten meistens mit der Bemerkung: „Fortsetzung folgt“, denn meist war es dann längst Schlafenszeit für uns Kinder.

Romanhelden wurden nicht selten zu Namens-Paten

Klassiker

Später, als ich in der Schule Gelegenheit hatte, Bücher von Mitschülern auszuleihen, war ich fasziniert von „Schloss Wildenstein“ (eine Rittergeschichte) und „Rosa von Tannenburg“ (ein Edelfräulein, das von einem Ritter geraubt wird). Meine dritte Schwester erhielt den Vornamen „Rosa“, weil sie in dieser Lese-Epoche geboren wurde. Sie ärgert sich noch heute über diesen Vornamen. Meine Mutter, die zeitlebens ebenfalls eine Leseratte war, betreute in der alten Heimat die Gemeindebücherei. So kam es, dass sie mir den Namen Eleonore gab, weil sie gerade „Torquato Tasso“ von J.W. von Goethe gelesen hatte, als ich unterwegs war. In diesem Werk heißen gleich beide Protagonistinnen Eleonore. Zur Unterscheidung wird die eine jedoch zu „Leonore“. Meine älteste Schwester war vorher schon ein Opfer von Kleists „Minna von Barnhelm“ geworden, denn sie erhielt den Vornamen Wilhelmine, der zu „Mina“ abgekürzt wurde.

Deutsch – mein liebstes Schulfach

In der Volksschule (heute Grundschule) liebte ich von Anfang an das Fach Deutsch. Es fiel mir leicht, Aufsätze zu schreiben. Da ich schnell fertig war, schrieb ich gleich noch den einen oder anderen Aufsatz für meine Mitschüler und bildete mir ein, dass der Lehrer das nicht merken würde. Von meiner Banknachbarin erhielt ich zum Dank die ausgelesenen „Lore“-Romane ihrer Mutter. Diese las ich dann während des Unterrichts unter der Bank. Der Pfarrer machte diesem Treiben ein Ende, da er es gar nicht schätzte, dass ich mich mit dieser trivialen Literatur während des Religionsunterrichts befasste.

Ein Lob der Schulbücherei

Später bekam die Schule eine eigene Bücherei. Natürlich übernahm ich in der Schulpause gerne die Ausleihe und war gleich mein bester Kunde. Mit großem Gewinn las ich zu dieser Zeit „Ein Kampf um Rom“ von Felix Dahn, „Im Angesicht des Kaisers“ (ein Roman über Friedrich II und Otto III). Das schadete ja nicht, denn der Geschichtslehrer freute sich. Im Zusammenhang mit einer Romanhandlung konnte ich mir sogar endlich historische Daten merken. Ähnlich war es im Fach Naturkunde. Ich hatte bei einem Mal-Wettbewerb der Sparkasse ein Buch gewonnen, das den Titel „Max Butziwackel, der Ameisenkaiser“ (Luigi Bertelli) hatte. Als dann die Bienen durchgenommen wurden, übertrug ich mein ganzes Ameisenwissen auf die Bienen und ich bekam die Note Eins in diesem Unterrichtsfach. Das Buch über die Ameisen kann ich noch heute als Lektüre für Schulkinder empfehlen, da es in korrekter, spannender und märchenhafter Weise das höchst interessante Leben der Ameisenvölker beschreibt

Geschichtskenntnisse spielerisch beim Lesen erwerben

Es folgten die damals sehr beliebten Jugendbücher „Die Höhlenkinder“ und „Die Steinzeitkinder“, die mir diese Epoche in unterhaltsamer Weise erschlossen. Natürlich habe ich irgendwann dann auch mit „Heidi“ von Johanne Spyri die Schweizer Berge kennengelernt, die Fortsetzungsromane von „Nesthäkchen“ (Else Uri) sowie die „Trotzköpfchen“-Geschichten kennen gelernt, die mich als Vierzehnjährige faszinierten. In diese Zeit fallen auch die Bücher von Karl May, J.F. Cooper, Erich Kästner. Mit zunehmendem Alter tauchte ich ein in die leidenschaftliche Welt der russischen Klassiker. Ich las und litt mit „Anna Karenina“, „Schuld und Sühne“, „Krieg und Frieden“. Die meisten Bücher las ich mehrfach, was sicher kein Schaden war.

Deutsche und amerikanische Nachkriegsliteratur

Als junge Erwachsene lernte ich nach und nach die damals modernen Schriftsteller mit ihren Erstlingswerken kennen, wie z.B. Heinrich Böll, Günther Grass, Martin Walser, Alfred Andersch, Siegfried Lenz und viele andere, die später zu Ruhm und Literatur-Preisen kamen. Es war eine sehr gute Zeit für Literatur, denn die Menschen waren nach dem Krieg ausgehungert nach Unterhaltung und auch nach der Befriedigung ihres Wissensdurstes. Wie meine Zeitgenossen damals war ich begeistert von den Werken von Thomas Mann, auch Heinrich Mann, Berthold Brecht, Peter Handke, Peter Härtling, Luise Rinser. Damals tauchten die ersten amerikanischen Kurzgeschichten-Bände auf. Die kurze, knappe Sprache, der plakative Stil, der amerikanische „way of life“ war Neuland für uns und zog uns in seinen Bann. Ich wurde ein Fan von Ernest Hemingway, John Updike,  Saul Bellow, Suzan Sonntag und vielen anderen.

Bücher für die „einsame Insel“

Begleitend zu diesen modernen Büchern las ich immer noch und immer wieder gerne die Klassiker der Schulzeit. Von Anfang an war ich begeistert von Goethes „Faust“ und Schillers „Wallenstein“. Die Werke dieser Dichter haben mich begleitet durch mein ganzes Leben. Auf die „einsame Insel“ würde ich auf jeden Fall das Reclamheft „Faust I“ mitnehmen, gerne auch „Goethes Leben und Werk“. Auch Rilke und Hesse aus der Reihe „Fünf-Minuten-Lektüre“ wären dabei. Gerne auch die „Bibel“ sowie das „Lehrbuch der Phytotherapie“ von Dr. R. F. Weiß, denn dann wüsste ich, was ich mit all den Kräutern dort anfangen könnte.

Literatur von Frauen und sogenannte „Frauenliteratur“

In den mittleren Jahren meines Lebens lernte ich durch ihre Bücher die Befindlichkeit von anderen Frauen in dieser Zeit kennen. Ein neuer, sehr direkter und manchmal schnodderiger Ton hielt Einzug, auch eine ungewohnte Offenheit. Gabriele Wohmann fällt mir da als erste Autorin ein, gefolgt von Christine Brückner, Marie-Luise Kaschnitz, Brigitte Kronauer. Ein absolutes Muss waren die Bücher von Simone de Beauvoir. In diesem Zusammenhang las ich auch Sartre. Ein Muss waren damals auch Albert Camus und André Gide. Das war anspruchsvoller Lesestoff und er erschloss sich nicht immer gleich. Zur Erholung las ich immer wieder gerne die Theaterstücke von George Bernard Shaw, über dessen bissigen und witzigen Stil ich mich noch heute amüsiere. Ähnlich die Bücher von Curt Goetz, der mit Shaw verwandt ist. Besonders schön und bleibend in der Erinnerung: „Die Mikrobe der Dummheit“, „Das Haus in Montevideo“. Diese Stücke wurden fast alle erfolgreich verfilmt.

Die Zeit der Psychologen und Soziologen oder die „68er“

Als die Zeit der Studentenrevolten heraufzog, kamen natürlich die Bücher hinzu, die von Soziologen, Psychologen und Politologen verfasst wurden. Alles wurde zu Politik, zum Problem, zum gesellschaftlichen Missstand. Ratgeberliteratur war angesagt, denn alles sollte neu, sollte verändert werden. Der flapsige Spruch: „Gut, dass wir darüber geredet haben“, hat seinen Ursprung aus dieser Zeit. Es gab seit den Entdeckungen von Freud schon andere lesenswerte Bücher zu diesen Themen. Diese waren mir oft eine große Hilfe in vielen Lebenslagen. So schätze ich bis heute die Werke von Erich Fromm, Viktor E. Frankl und Wladimir Lindenberg.

Bücher der letzten Jahre

Besonders beeindruckt haben mich in den vergangenen Jahren die Bücher „Nachtzug nach Lissabon“ (Pascal Mercier), „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (Sten Nadolny), „Die Vermessung der Welt“ (Daniel Kehlmann) und „Das verborgene Wort„ (Ulla Hahn). Sie waren zu Recht lange auf allen Bestseller-Listen. Nach der Wende folgten gute Bücher, die die Jahre der deutschen Trennung und der Wende-Zeit aufarbeiteten. „Der Turm“ von Uwe Telkamp hat mich sehr beeindruckt. Kürzlich las ich zwei Bücher von Angelika Klüssendorf „Das Mädchen“ und „April“. Den Stil fand ich gewöhnungsbedürftig und der Plot war sehr realistisch und schwer zu ertragen. Das mag an meinem Alter liegen – und so komme ich zu den Büchern, die mich aus diesem Grunde zur Zeit beschäftigen.

Lektüre über das Altern und das Alter

Gute und vernünftige Anleitungen von Medizinern, Psychologen und Soziologen zu diesem Thema gibt es zuhauf. Ich nenne hier einige unterhaltsame, witzige, humorvolle und ganz nebenbei auch nützliche Bücher über das Altern. Auch hier beginne ich mit Simone de Beauvoir. Sie hat schon vor langer Zeit Erhellendes und auch Entmutigendes zu diesem Thema geschrieben. Mir hat das Buch von Prof. Walter Birkmayer „Rosenkäferkomplex und Eidechsenprinzip“ schon vor Jahren wegen seiner unaufgeregten Art gefallen, danach „Jenseits der Fünfzig“ von Wladimir Lindenberg, auch Bernard Lievegoed hat in seinem Buch „Der Mensch an der Schwelle“ Nachdenkliches veröffentlicht und Silvia Bovenschen hat kürzlich kurz und knapp „Älter werden“ herausgegeben. Ich schätze sehr die Altersbücher von Christine Brückner. Ein seltenes Buch, das in seiner Ehrlichkeit schwer zu ertragen ist (aber desto nützlicher), ist von Margarete Hansmann mit dem Titel „Tagebuch meines Alterns“. Amüsant sind die Bücher von A. Biegel und H. Swildens, z.B. das Buch „Wo ist denn meine Brille“.

Biografien – literarische Begleiter durch das Leben

Biografien waren und sind meine große Leidenschaft. Ich habe eine große Sammlung, die mich ständig zum Wiederlesen verführt. Was gibt es Interessanteres, als einzutauchen in das Leben und Wirken von Menschen aus anderen Zeiten und Lebensverhältnissen? Es zeigt sich immer wieder, dass die Menschen neben allen geographischen oder soziologischen Unterschieden zu allen Zeiten etwas Gemeinsames haben: Die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach dem Weg zu diesem Ziel.