Von der Neuklassik bis zum August-Erlebnis

von Lore Wagener

Um 1910 gab es viele literarische Strömungen. Sie hatten die großen Veränderungen aufzuarbeiten, die in der Gesellschaft entstanden waren. Sie betrachteten das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven, vielfach aus naturalistischer Sicht aber auch als Anhänger der Avantgarden.

Die Neuklassik 1905 – 1913

Die Neuklassik hatte sich aus der Neuromantik entwickelt. Literaten der Neuklassik versuchten, die Formen und Themen der Klassik wieder zu beleben. Sie wandten sich betont gegen den Naturalismus, den sie als zu materialistisch einstuften. Die Neuklassik hatte aber nur eine kurze Periode. Sie ist heute fast vergessen. Die Lexika nennen als ihren Hauptvertreter den Schriftsteller Paul Ernst, der eine Reihe theoretischer Schriften über die Dichtkunst hinterließ, aus denen noch heute zitiert wird. Seine Poetik und Prosa finden heute kaum noch Beachtung. Wichtiger für die Neuklassik ist Gerhart Hauptmann, der sich nach den Webern vom Naturalismus entfernt und der Neuromantik zugewandt hatte. Sein 1913 verfasstes Schauspiel „Der Bogen des Odysseus“ zeigt seine Hinwendung zur Klassik.

Der Frühexpressionismus (1905 – 1914)

Der Expressionismus war eine große und prägende künstlerische Strömung, die zunächst von der bildenden Kunst ausging. Der im Jahre 1911 entstandene Begriff bedeutet so viel wie „Ausdruckskunst“. Man kann diese Richtung als „Reaktion der Seele“  auf die vom Naturalismus bestimmte materialistische Wirklichkeit verstehen. Darüber hinaus ist sie eine Gegenströmung zum Impressionismus, der auf die äußeren Eindrücke der Wirklichkeit fixiert war. Für den Expressionisten sind die inneren Eindrücke der Seele die eigentliche Wirklichkeit. Die äußeren Gegebenheiten sind für ihn unwichtig. Und das seelische Erlebnis ist so vielgestaltig, dass eine umfangreiche Literatur entstand. Sie kam vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum. Das nachfolgende Gedicht zeigt die Unterschiede zu den anderen literarischen Richtungen auf:
„Der Gott der Stadt
Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
Die letzten Häuser in das Land verirrn.“
Georg Heym 1910

Untergangsstimmung im Frühexpressionismus

Das „seelische Erleben“, das die Expressionisten aufzeigten, war wenig positiv. Sie griffen die akuten Erfahrungen und Motive der Zeit auf: Erster Weltkrieg, Großstadtleben, Ekstase, Industrialisierung oder Erneuerung der Gesellschaft. Ihre Lyrik veröffentlichten sie zunächst in eigenen Zeitschriften. Sie beschrieben gerne Tod und Untergang und auch den Krieg. Viele der jungen Expressionisten wünschten sich sogar den Krieg herbei, weil sie sich davon einen positiven Umbruch der Gesellschaft erhofften. Jakob van Hoddis Gedicht „Weltende“ lässt die damalige Seelenverfassung erkennen.
„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“
Jakob van Hoddis „Weltende“ (1911).

Der literarische Futurismus (1909 – 1924)

Der Futurismus war eine äußerst radikale Form des Expressionismus in Italien. Er war eine künstlerische Bewegung vor allem der bildenden Kunst. Aber er wollte auch die Literatur verändern. Unter dem Einfluss von Nietzsches Philosophie  war er rein auf das Zukünftige gerichtet. Er wandte sich gegen alle historischen Kunstrichtungen und hätte gerne alle Museen und Bibliotheken zerstört. Er suchte nach neuen Formen im Zeitalter der Maschinen. Wie radikal er war, zeigt dieses Zitat aus dem Manifest von 1909: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Aufgrund seiner Radikalität fand der literarische Futurismus keine weite Verbreitung. Zu nennen ist der Italiener Marinetti. 1924 löste sich die futuristische Bewegung auf. Ihre Ideen beeinflussten später Kubismus, Dadaismus und Surrealismus. Am stärksten war ihr Einfluss in Russland, man erkennt ihn sogar noch bei Pasternak.

Patriotische Literatur

Der Vollständigkeit halber sei noch die patriotische Literatur genannt, die half, die Bevölkerung auf den Krieg vorzubereiten. 1914 gab es in Deutschland eine regelrechte Kriegsbegeisterung. Die Leute nahmen den Kriegsbeginn begeistert auf. Sie erwarteten  den Sieg über Frankreich und England. Das war für sie eine Frage des Nationalstolzes. Viele Schriftsteller begrüßten den Krieg, sogar Thomas Mann hielt ihn für eine reinigende Maßnahme. Das jahrelange „Säbelrasseln“ der Staatsoberhäupter hatte also Wirkung gezeigt. Manche Theologen gaben dem Krieg sogar eine religiöse Weihe. Der Soziologe Max Weber schrieb „über diesen großen und wunderbaren Krieg“, und dass es herrlich sei, ihn noch zu erleben. Rudolf Alexander Schröder dichtete: „Für dich will ich leben, für dich will ich sterben, Deutschland, Deutschland“. Stefan Zweig beschrieb eine verführerische Solidarität unter den Volksmassen, „der man sich schwer habe entziehen können“. Später kam die Ernüchterung. 1916 lieferte Heinrich Mann mit seinem Roman “Der Untertan“ eine kritische Beschreibung des Hurrapatriotismus.

Links

Der Bogen des Odysseus

Der Gott der Stadt

Jakob van Hoddis Weltende

Das futuristische Manifest

August-Erlebnis