Die Mütter des Grundgesetzes

Von Lore Wagener

Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates von 1948/49 gelten als Väter und Mütter der bundesrepublikanischen Verfassung. Es waren 61 Männer, viele davon als bedeutend bewundert, und nur 4 weniger bekannte Frauen, die um unsere demokratische Verfassung rangen.

Was war der Parlamentarische Rat?

Im Jahr 1948 gab es im besiegten Deutschland vier Besatzungszonen der Siegermächte. In den einzelnen deutschen Ländern hatten sich bereits Landtage und demokratisch gewählte Regierungen installiert. Es zeichnete sich jedoch ab, dass die sowjetische Besatzungszone einen Sonderweg gehen würde. Die westlichen Alliierten beschlossen daher eine „Londoner Empfehlung“, die sie den 11 Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder überreichten. Danach konnte auf demokratischer Grundlage die Bundesrepublik Deutschland entstehen. Deren demokratische Verfassung sollte ein Parlamentarischer Rat beschließen. Die Landtags-Parteien entsandten also Abgeordnete in dieses Gremium. Es galt, die Fehler und Schwächen der alten Weimarer Verfassung zu vermeiden. Eine wichtige Arbeitsgrundlage waren die so genannten „Frankfurter Dokumente“, die auf der Londoner Konferenz Anfang 1948 entstanden waren.

Biografien der „Mütter“

Die 4 Mütter des Grundgesetzes waren Helene Weber, Helene Wessel, Friederike Nadig und Elisabeth Selbert. Ihre Biografien wiesen mancherlei Gemeinsamkeiten auf. Sie wurden alle im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts geboren und stammten aus mittelständischem Milieu, das politisch oder religiös geprägt war. Durch ihre Eltern oder den Ehemann kamen sie schon in jungen Jahren zur aktiven Parteiarbeit. Helene Weber, die Älteste von ihnen, hatte den Ruf einer „preußischen Katholikin“. Sie stammte aus Elberfeld. Ihre Partei war die CDU. Helene Wessel kam aus Dortmund und hatte ebenfalls ein katholisch geprägtes Elternhaus. Sie war Mitglied der Zentrumspartei. Frieda Nadig und Elisabeth Selbert waren von der SPD in den Parlamentarischen Rat delegiert worden. Der Vater von Frieda Nadig war Sozialdemokrat in Herford. Die Tochter trat ebenfalls der SPD bei und widmete sich dort vorrangig der Wohlfahrts- und Jugendpflege. Elisabeth Selbert aus Kassel kam durch ihren Mann zur SPD. Sie wurde das literarisch interessanteste Mitglied dieser Frauenriege. Ihr Leben wurde sogar verfilmt.

Bis zum Ende des 2. Weltkriegs

Wessel, Gerstenmaier; CC Bundesarchiv

Von 1920 bis 1933 wirkten die genannten Frauen an führenden Stellen ihrer Parteien mit. Daneben nahmen sie auch die Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges wahr. Helene Wessel studierte an der Deutschen Frauenakademie in Berlin und schloss mit einem Diplom ab. 1933 verlor sie ihre Ämter wegen „politischer Unzuverlässigkeit“. Sie arbeitete dann vor allem in katholischen Fürsorgevereinen. Dort war nach 1933 auch Helene Weber tätig, eine ausgebildete Volksschullehrerin, die von 1920 bis 1933 als Ministerialrätin im Preußischen Wohlfahrtsministerium zuständig für „Soziale Ausbildung und Jugendfragen“ war. 1933 wurde sie wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ fristlos aus dem Staatsdienst entlassen. Das gleiche Schicksal widerfuhr Frieda Nadig, die bis 1933 als Jugendfürsorgerin beim Wohlfahrtsamt Bielefeld arbeitete. Ihre Qualifikation hatte Frau Nadig an der Sozialen Frauenschule in Berlin erworben. Elisabeth Selbert holte extern das Abitur nach und studierte Jura. Sie ließ sich als Rechtsanwältin in Kassel nieder bis auch sie das Berufsverbot erhielt.

Parteiarbeit nach 1945

Helene Weber, Heuß; CC Bundesarchiv

Mit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes waren auch die Berufsverbote passee, und unsere Parteifrauen konnten sich im zertrümmerten Land wieder ihrer alten Berufstätigkeit, aber auch ihrer Parteiarbeit widmen. Sie betrachteten es jetzt als ihre Pflicht, sich in der Nachkriegssituation mit aller Kraft für Demokratie und Frieden einzusetzen, „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, das war ihr Hauptanliegen und der Antrieb für ihr politisches Wirken. Sie wollten zusammen mit den männlichen Parteifreunden eine stabile demokratische Verfassung gestalten. Das war ihr Leitfaden im Parlamentarischen Rat, wo sie zunächst im Rahmen ihrer Fachgebiete mitwirkten.

Der Kampf um die Gleichberechtigung

Elisabeth Selbert; CC Bundesarchiv

Elisabeth Selbert erkannte jedoch bald, dass es in der Frage der Gleichberechtigung nicht gut für die Frauen stand, denn das Gremium überlegte, die Weimarer Verfassung wieder zu verwenden, die nur eine Gleichstellung in staatsbürgerlichen Fragen, aber nicht in anderen Rechtsgebieten, vorsah. Selbert nahm daher den Kampf auf und forderte, den schlichten Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ als Grundrecht in der Verfassung zu verankern. Sie sagte „Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden“. Ihr Antrag fand aber keine Mehrheit. Viele der Herren lehnten aus Prinzip ab. Andere meinten, wenn dem Antrag stattgegeben würde, wären weite Passagen des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht mehr verfassungskonform, und damit könne ein rechtsfreier Raum entstehen. Diesen Einwand räumte Frau Selbert in Zusammenarbeit mit einer Verfassungsrichterin aus, indem sie einen Zusatzartikel einfügte, nach dem die alten Gesetze bis zum Inkrafttreten der neuen gelten sollten. Aber auch mit diesem Zusatz fand sich keine Mehrheit.

Männer und Frauen sind gleichberechtigt

Das sollte der Text sein, wie ihn die Frauen forderten. Als dieser Text wiederholt keine Mehrheit im Parlamentarischen Rat fand, mobilisierte Elisabeth Selbert die Öffentlichkeit – und die Frauen gingen geschlossen auf „die Barrikaden“. Den Protest organisierten die Frauenverbände und die Frauenausschüsse, von denen es damals in Westdeutschland immerhin mehr als 5000 gab. Deren Mitglieder demonstrierten und schickten waschkörbeweise Protestschreiben und Postkarten an den Parlamentarischen Rat. Dort blockierten diese den Posteingang der Parlamentarier. Und das machte Eindruck. Letztendlich gab es dann eine positive Abstimmung. Das war ein historischer Erfolg für die westdeutschen Frauenbewegungen und ein persönlicher für Elisabeth Selbert.

Rechtliche Anpassung

Es zeigte sich aber, dass es nach der Verabschiedung der Verfassung am 23. Mai 1949 noch Jahrzehnte dauerte, bis die – nun verfassungswidrigen – Gesetze, die, zum Beispiel, den Vater zum alleinigen Inhaber des Familienvermögens machten, aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen wurden. Im Bundestag gab es 1957 dann noch heftigen Streit um die so genannte „Letztentscheidung“, die nach altem Recht dem Familienvater das letzte Wort im Streitfall zusprach. Elisabeth Selbert konnte sich leider nicht an dieser Debatte beteiligen. Sie hatte in der hessischen SPD keine Lobby und bekam so keinen aussichtsreichen Listenplatz für den Bundestag. Dafür stritt dann Frieda Nadig als SPD-Abgeordnete für die Rechte der Frauen. Heute ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau selbstverständlich. Die weitergehenden Forderungen der Frauen – zum Beispiel auf Lohngleichheit – blieben jedoch bis heute nicht vollständig erfüllt. Noch heute liegt der durchschnittliche Brutto-Stundenlohn von Frauen um 22 v.H. unter dem der Männer.

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