Von Erna Subklew
Die Geburt eines Kindes in der Türkei, vor allem des ersten, ist nicht nur Anlass zur Freude in der jungen Familie, sondern verändert auch ihre „soziale“ Struktur. In der Türkei heiratet die Frau, die gelin, die Gekommene, in die Familie des Mannes. Solange sie kein Kind geboren hat, ist sie das letzte Glied der Familie.
Vor der Geburt
Die vor der Geburt praktizierten Bräuche und Gepflogenheiten haben, wie auch in anderen Ethnien, häufig mit dem Schutz der Schwangeren zu tun. Während dieser Zeit genießt die Frau eine besonders nachsichtige Behandlung, und man erwartet ein ebensolches vorsichtiges Verhalten von ihr.
Je nach ihrem Essverhalten, das gern unterstützt wird, glaubt man, auf das Geschlecht des Kindes schließen oder es sogar beeinflussen zu können. Auch wenn man heute weiß, dass dies nicht stimmt, spricht man von der Geburt eines Jungen, wenn die Frau gern Süßes isst und von einem Mädchen, wenn sie Herzhaftes bevorzugt. Das Essen verschiedener Speisen ist ihr untersagt, beispielsweise Hasen oder Fische zu essen. Daneben gibt es andere Tabus: so soll sie nicht in Brunnen schauen und Begräbnisse besuchen (was bei Frauen sowieso unüblich war und ist).
Erwünscht dagegen ist es, wenn die Schwangere an Rosen riecht, Äpfel und Trauben isst und den Himmel und schöne Menschen betrachtet.
Die Geburt
Wie auch in anderen Ländern erfolgte die Entbindung früher meist zu Hause, während jetzt in steigendem Maße Entbindungs- und Krankenhäuser bevorzugt werden.
Die Dorfhebammen kennen sich mit Praktiken, die die Geburt erleichtern sollen, gut aus. So werden die Haare der Frau ebenso wieTüren und Fenster geöffnet, wenn die Wehen einsetzen. Frauen, die eine leichte Geburt hatten, werden bei der Geburtshilfe bevorzugt und Vögel gefüttert.
Nach der Geburt
Nach der Geburt wird die Nabelschnur nicht einfach nur entsorgt, sondern sie wird in der Nähe einer Moschee vergraben, damit das Kind fromm wird, an der Mauer einer Schule, damit es klug oder in der Scheune, damit es tierlieb wird.
Die ersten vierzig Tage nach der Geburt gelten als sehr kritisch für Mutter und Kind. Deshalb sollen beide nicht das Haus verlassen. Es heißt, dass in diesen Tagen das Grab der Frau offen bleibt und die „Al karisi“, eine Hexe, den Säugling zu entführen versucht. Deswegen erhält der Säugling zunächst auch einen vorläufigen Namen. Die bösen Geister werden durch das Aufbewahren eines Korans im Raum und einer blauen Perle, die dem Kind an die Kleidung geheftet wird, abgewehrt.
Nach diesen vierzig Tagen unterzieht sich die junge Mutter gemeinsam mit ihrem Kind einer rituellen Waschung, bei der der Koran zitiert wird.
Vergleich mit anderen Ländern
Wenn ich die Sitten und Gebräuche um die Geburt in der Türkei mit denen, die früher bei uns üblich waren, vergleiche, so stelle ich eine große Übereinstimmung fest. Auch in Deutschland wurden Schwangere rücksichtsvoller behandelt, als es den sonstigen Gepflogenheiten entsprach. Ihre Heißhungerattacken auf bestimmte Speisen, vor allem auf Süßes oder Saures, wurden als Zeichen für das Geschlecht des Kindes gedeutet. Die 40tägige Frist, die es in der Türkei bis zur Entlassung in den Alltag gibt, ist mit den sechs Wochen vergleichbar, die es in der katholischen Kirche bis zur Aussegnung und dem ersten Kirchenbesuch gab.
Wahrscheinlich wird es auch Verbote für das Essen von bestimmten Speisen gegeben haben, wobei es kaum Hase und Fisch gewesen sein dürften, da diese zu exklusiv waren.
Alle diese Bräuche und Tabus dürften überall dem alleinigen Zweck der Sicherung des Fortgangs des Lebens in der Zukunft dienen. Nur ein kleiner Teil von ihnen dürfte durch die Religion bestimmt sein.