Bonny Ol` England – Eine Rundreise

von Beate Seelinger

Der Westen: „aufwärts“ von Abenteuer zu Abenteuer

Aufbruch: Drei Koffer, ein Rucksack und ein Abenteuer

Die Hausdame händigte mir die Quittung aus und verabschiedete sich mit der formvollendeten Höflichkeit einer englischen Lady. Ich hatte gerade die drei Koffer, in denen sich meine Habseligkeiten für ein Jahr Auslandsaufenthalt in Großbritannien befanden, in einem gemieteten Abstellraum untergebracht und die Formalitäten erledigt. Das Jahr war jetzt vorüber, jedoch vor der Heimreise war noch eine Rundtour über die Insel geplant – mit Rucksack, für sechs Wochen, von Jugendherberge zu Jugendherberge und vor allem auf eigene Faust und alleine. Bestimmen sollten die nächsten eineinhalb Monate nur eben dieser Rucksack, mein Britrail-Ticket und der Jugendherbergsführer.

Ich schulterte den Rucksack. Toll fühlte es sich an, zu wissen, sich für die nächste Zeit um nichts kümmern zu müssen als um dieses Gepäckstück. Wunderbar frei, leicht und unbeschwert. Die Unterkunft war gekündigt, die Besitztümer sicher verstaut – als mein „Drei-Koffer-Bewusstsein“ sollte ich diesen Zustand für den Rest meines Lebens in Erinnerung behalten. Vor mir lagen sechs Wochen Neuland – im Sinne des Wortes – und hinter mir drei Koffer. Diese wunderbare Sorglosigkeit und Ungebundenheit mit der Aussicht auf eine Weile des Herumvagabundierens hat man nur selten, vielleicht nur einmal im Leben.

Großbritannien (Pixabay)

Die erste Etappe: Eine windumwehte Klippe, Blumen und römische Gemäuer

Von Exeter in Devon brachte mich der Überlandbus nach Cornwall, in die Nähe von Land`s End, dem südlichsten Zipfel Großbritanniens. Von hier hatte ich vor, mit Bus oder Bahn, zu Fuß oder per Anhalter mit Abstechern ins Inland die Westseite der Insel zu erkunden, bis hoch nach John o`Groats, dem nördlichsten Auswuchs des Landes, an der äußersten Küste Schottlands. Die Ostseite des Königreichs abwärts bis nach London war als Rückweg angedacht, jedoch eine genaue Reiseroute gab es nicht.

Und nun stand ich am offiziellen Startpunkt meiner Reise, an einem beschilderten Pfosten, der Entfernungsanzeigen zu allen möglichen Orten in der Welt hergab. Selbiger auf einer schroff aufgetürmten Klippe, im steifen Wind, jedoch bei Sonnenschein. Feinster Gischtnebel stieg ab und an hoch bis zu diesem exponierten geografischen Punkt, wo ich meine Hoffnung, in meditativer Hingabe hier meinen Weg beginnen zu können, schnell begraben musste. Natürlich war der Ort frequentiert und das klobige Gästebuch im Blechkasten am Pfosten ließ in etwa erahnen, wie viele Reisende, Touristen und Tagesausflügler diesen vom Golfstrom umspülten Platz an der englischen Riviera schon besucht hatten. Begleitet von ein paar Gedanken schrieb ich meinen Namen unter die anderen und freute mich, ihn in Gesellschaft von Sprachen und Schriftzeichen aus aller Welt zu sehen.

In internationaler Begleitung – der einer Asiatin und eines Studenten aus Neu-seeland – ging es am späten Nachmittag zur Jugendherberge. Hier sollte ich zum ersten Mal die Atmosphäre und Behaglichkeit der Gemeinschaftsküchen, die es in britischen Hostels immer wieder gibt, erleben. Rucksacktouristen aus aller Herren Länder brutzelten sich hier ihr schlichtes Mahl, während Kommunikation über alle Sprachbarrieren hinweg gelang oder misslang und hier und da Kontakte für die nächste Reiseetappe geknüpft wurden. In solcher Gesellschaft sollte ich noch häufig meine Abende verbringen und auch mit Etappenbekanntschaften anbandeln. Jedoch, noch beseelt von dem Gedanken, ganz unabhängig zu sein, wollte ich dies zunächst auch bleiben und steuerte so am folgenden Morgen mein nächstes Ziel, das Städtchen Bath, alleine an.

Wenn man an Bath denkt, denkt man an Blumen. Der jährliche Blumenwettbewerb bringt mit sich, dass die ganze auf römischen Mauern und Scherben gebaute Stadt in einem Blütenmeer badet. Blumen überall – in Beeten, auf Fenstersimsen, in Körben herabhängend, in Töpfen, in Kübeln. Mehr noch als die antiken Gemäuer, die zur Visite einluden, sollte mir die Farbenpracht dieses pittoresken Städtchens im Sinn bleiben. Bath und seine Blumen – ein Fest für die Augen, eine Freude für die Seele! Bath, ein florales Kunstwerk mehr noch als antike Sehenswürdigkeit. Die römische Therme ist schön, durchaus, jedoch der Blütenrausch in Harmonie mit der verspielten Architektur der Häuserzeilen verzauberte das Städtchen in meinen Augen weit mehr.

Die zweite Etappe: Tradition und walisische Schafe

Bath hinter mir lassend pilgerte ich sozusagen durch kleinere und größere Ortschaften hin nach Oxford, der altehrwürdigen Studentenstadt, wo mir die zahlreichen Colleges einen Einblick in das traditionelle Studentenleben gewährten. Ein wenig Neid kann schon aufkommen, bedenkt man, dass hier zwischen jahrhundertealtem Gemäuer die hohen Wissenschaften gepflegt werden, Dozenten und Studenten in ihren schwarzen Talaren in Räumlichkeiten, die die erhabensten Geister beherbergten. Das gleiche trifft auf Cambridge zu, mit seinen Seminaren entlang des träge dahinziehenden Cam, das ebenso altehrwürdige Städtchen, das ich auf meiner Rückreise zu sehen, ja zu genießen bekam. Ihre ganz eigene Atmosphäre haben diese Orte, trotz der vielen Studenten eher ruhig, als dürfe beim konzentrierten Studium niemand gestört werden. Oxford und Cambridge kennt jeder, zumindest dem Namen nach, jedoch ein Besuch dort eröffnet erst den wahren Geist und die Kraft der Tradition dieser Stätten.

Es dauerte nicht lange, bis sich vor den Scheiben des Überlandbusses – Oxford im Rückspiegel – die Hügel von Südwales auftaten. Dort sollten sich meine neuen formidablen Wanderschuhe bewähren. Ich wollte hier durch die Natur dieser Mittelgebirgslandschaft streifen, über Weiden und Wiesen, durch Wälder und über Lichtungen. Ganz entfernt konnte ich an einem beschienenen Abend einem Sonnenuntergang über dem Meer beiwohnen, der mich die Zeit vergessen ließ. Alleine auf einem Hügel im Gras hörte ich nichts als den Gesang zweier flirtender Amseln und die in zahllosen Tonlagen summenden und zirpenden Insekten. Ein Schmetterling ließ sich auf meinem farbenfrohen T-Shirt nicht stören und flog erst auf, als ich nach schier endlosem Verweilen in dieser Szene durch das Motorengeräusch eines Pick-Ups aufschreckte. Das Fahrzeug näherte sich und erstaunt befragte mich der Fahrer, nachdem er sein Fahrzeug neben mir zum Stehen gebracht hatte, nach meinem Woher und Wohin. In die Realität zurückgekehrt, fiel mir ein, dass ich noch einige Kilometer bis zur Jugendherberge zurückzulegen hatte. Als hätte er meine Gedanken erkannt, ersparte mir der Farmer die Frage nach einer Mitfahrgelegenheit, indem er mir anbot, auf die Ladefläche aufzusteigen. Ich nahm begeistert an. Begeistert über die Fahrt im „Cabrio“ und begeistert über meine Mitpassagiere: drei wollige walisische Schafe.

Der Fahrer hatte einen Umweg genommen und mich an der Jugendherberge mitten im Wald abgesetzt. Von dort brach ich am folgenden Morgen in aller Frühe zu Fuß auf. Der Morgen sollte ein ebenso einzigartiges Naturschauspiel wie das am vorherigen Abend mit sich bringen. Über die bequem angelegten und hervorragend ausgeschilderten Wege des National Trust wanderte ich durch dichten Wald, erwachend mit den Tag begrüßenden Vogelstimmen aller Art. Erste Sonnenstrahlen brachen sich im Geäst und setzten glitzernde Akzente auf Tautropfen, die sich in den überall herabhängenden Spinnweben verfangen hatten. Lange lief ich so und konnte meine Augen nicht von diesen filigranen Schönheiten lassen. Lange lief ich, bis die Sonne höher stieg und das Märchenhafte des Morgens mit der Silhouette des in der Ferne auftauchenden Städtchens in Realität überging. Was für ein Morgen, was für ein Tag!

Die dritte Etappe: Käse, Fachwerk und ein Schokoriegel

Nach so viel Natur zog es mich auf gewollten Umwegen in die nächste größere und attraktive Stadt: Chester. Der Käse, der von hier kommt, ist legendär, weniger bekannt ist die reizvolle Tudor-Lauben-Architektur. Eine Fachwerkstadt – gleichsam York, das ich noch auf meiner Rückreise zu sehen bekommen sollte – jedoch, da nicht wie jenes von Stadtmauern umgeben, im Kern nicht so unversehrt, was Einflüsse der Moderne angeht. Chester und York, schon weit „oben“ in England – man nennt sie gerne in einem Atemzug. Fachwerkzeilen dominieren in beiden Städten, in Chester weiter als im engen York und dort – nicht zu vergessen – die trutzige Kathedrale, um die sich die Häuschen kuscheln. Chester und York, zwei Juwelen im oberen Teil des Landes – immer einen Besuch wert und ein Genuss für das fotografische Auge.

Von dort ging es nun endlich in Richtung Schottland. Vorher jedoch galt es den Hadrianswall zu überqueren beziehungsweise zu begehen, den von den Römern angelegten Grenzwall, der England von Schottland trennt und die nördlichste Grenze des römischen Reiches markierte. An diesem Limes wies mein Jugendher-bergsführer verschiedene Unterkünfte aus und ich entschied mich, die Strecke zwischen zwei ausgewählten Einkehrmöglichkeiten a u f dem Wall zurückzulegen – in peitschendem Regen, unter unbarmherzigen Hagelschauern und gegen den Wind. Nie werde ich den Schokoriegel vergessen, der mir in der Erschöpfung und bei unterschätztem Proviantbedarf buchstäblich das Leben rettete! Letztendlich in der Jugendherberge angekommen, hatte diese an sich geschlossen. Man ließ jedoch gebadete Katzen wie mich ein, damit sie über Holzgerüsten im Keller die Kleidung trocknen und beim Kartoffelschälen und Lauchputzen helfen konnten. Sehr intim gestaltete sich dieser Aufenthalt – im kleinsten Kreis – sozusagen als private Gäste der Herbergseltern.

Herbergseltern: der britische Charakter

Ungewöhnliche Herbergseltern beziehungsweise –väter traf man in den oft urigen Unterkünften häufiger an. Da gab es den Herbergsvater in einem Hostel an der walisischen Küste, der morgens die Gäste um sechs weckte. Nicht etwa mit einer Glocke oder mit Musik – wie es der Herbergsvater in der Übernachtungsmöglichkeit am schottischen Loch Lomond mit dem Dudelsack tat – sondern, indem er die als Rettungsschiff gestaltete Spendenkasse der Lebensrettungsgesellschaft ununter-brochen schüttelte und mit dem Ruf: „Rettet das Lebensrettungsschiff“ durch die Räume stürmte. Das Geklapper und seine scharrende Stimme weckten Tote auf und nur, damit er damit aufhörte, beeilten sich die verschlafenen Gäste, die Spendenkasse zu füttern. Dann gab es da noch den Herbergsvater in Salisbury, dem es nichts ausmachte, dass sich vor seiner Herbergstüre, durch deren Fensterchen er die Rezeption abwickelte, eine beachtliche Schlange im strömenden Regen aufgestellt hatte, nur weil er unerschütterlich jede der nicht enden wollenden Fragen, die er jedem Gast stellte, mit den drei Wörtern „well“, „right“, „now“ einleitete – „well, right, now – wie heißt Du?“, „well, right, now – woher kommst Du?“, „well, right, now – wie alt bist Du?“…Und so ging es im Schneckentempo voran, während die Wartenden im Regenguss bis aufs Hemd durchnässten. „Er ist eben ein Charakter“, pflegte der Kommentar der britischen Gäste zu sein, die sich über Eigenheiten von Jugendherbergsleitungen weder zu wundern noch zu ärgern schienen und die diese mit stoischer Gelassenheit nahmen. Da schien der alte britische Grundsatz zu tragen: „Keep calm and carry on“, „bleib  ruhig und mach` weiter.“

Die vierte Etappe: ein schottischer Kilt und wieder eine windumwehte Klippe

Bevor ich John o` Groats erreichen sollte, war es ein Muss, an ein, zwei schottischen Seen Halt zu machen. So schipperte ich denn über den weitläufigen Loch Lomond und – natürlich, wie könnte es anders sein – hielt ich Ausschau (nie würde ich es zugeben) nach Nessie am Loch Ness. Die Landschaft wurde langsam rauer. Während Loch Lomond anfangs noch eine gewisse Lieblichkeit zugesprochen werden konnte, umgeben von hügeligen Wäldern und einen weiten Blick eröffnend, wartete Loch Ness mit seinen tiefen, dunklen Wassern und den doch inzwischen beachtlich hohen Bergen in seiner Umgebung mit einer durchaus – in Nieselregen und Nebel gesehen –  düsteren Stimmung auf, die das sagenumwobene Gewässer gut kleidete. Weder zum Baden noch zur Schifffahrt lud der See ein und so beschenkte mich der Besuch in Inverness mit einem zeitlosen Souvenir – einem echten schottischen Kilt, den ich noch Jahrzehnte später tragen durfte.

Durch die Highlands fuhr ich mit dem Zug. Es war zu früh im Jahr, um die Heide blühen zu sehen, jedoch die Kargheit der Landschaft nahm die Seele auf ganz eigene Weise gefangen. Man konnte sich nirgendwo festhalten in dieser Einöde.  Über Strecken nichts als braune Berghänge, hier und da ein paar Schafe oder Highland-Rinder, da und dort eine kleine Whiskydestillerie, jedoch keine Menschenseele weit und breit. Der Wind jagte Wolken und entwurzelte Büsche vor sich her, und vor den Zugfenstern blieb sich die Landschaft in ihren Brauntönen durchgängig treu. Am Ende – nach einem zielstrebigen Fußmarsch – war das äußerste nördliche Ende der Insel erreicht – ein Pfosten mit Entfernungsanzeigen, wie ich ihn im Süden schon gesehen hatte, ebenso gischtbesprüht und wettergegerbt in Sturm und Regen. Die halbe Strecke war absolviert, nun sollte es „abwärts“ gehen auf der Ostseite Großbritanniens.

Schottisches Hochland

Der Osten: Gemächlich geht es „abwärts“

Die fünfte Etappe: Das Athen des Nordens und brüchiger Kalkstein

Wieder durch die Highlands brachte mich der Zug nach Edinburgh, dem Athen des Nordens. Über der Stadt die mächtige Burg, die Straßen darunter gesäumt von eher dunklen Fassaden. Eine lebhafte Stadt und in der Tat – lag es am sonnigen Wetter – beinahe südländisches Flair, trotz der gar nicht so freundlichen Häuserfronten. Jedenfalls verspielt, so wirkte es, erreichte man die Stadt aus den wetterwendischen Highlands. Edinburgh bedeutete Kultur, Besichtigungen, Einkehr und Übernachtung im Hotel. Edinburgh, ganz Großstadt und willkommener Kontrast nach der Einsamkeit der schottischen Berge. Edinburgh brachte Verwöhnung und Zivilisation, Auftanken von Geistesnahrung nach langer Zeit in der Natur mit ihren Schönheiten ganz anderer Art. Edinburgh hielt mich ein paar Tage fest, bevor ich bereit war, wieder die Wanderstiefel überzuziehen.

Nach dem weniger attraktiven Newcastle und einigen Abstechern in am Weg liegende Örtchen lockten nun die Yorkshire Dales. In der Gemeinschaftsküche einer wiederum originellen Jugendherberge hatte ich zwei junge Briten kennengelernt, die mir klarmachten, dass man die Yorkshire Dales querfeldein bewandern musste. Sie selbst pflegten dies an jedem freien Wochenende zu tun. Sie würden sich auskennen und sie nähmen mich am folgenden Tag zu einer Tagestour mit. Wollte ich? Klar, wollte ich! Und so starteten drei abenteuerlustige Wanderer am nächsten Tag in das schmeichelnde Licht einer unerwarteten Morgensonne. Wege waren verpönt auf dieser Wanderung. Es ging über Weiden und Wiesen, umrandet von niedrigen Hecken oder Bruchsteinmauern, die es an den speziell dafür angebrachten Trittleitern zu überwinden galt. Vorwiegend Weiden und Wiesen, allerdings begleitet von der ständig drohenden Gefahr, in Untiefen des brüchigen Kalksteinuntergrundes einzubrechen. Es war anstrengend. Durch hohes Gras, insgesamt sanfte Hügel zwar, aber dennoch hinab und hinauf. Der kleine Gasthof zur Mittagszeit erschien wie ein Geschenk des Himmels, und das köstliche Manna konnte nicht besser gemundet haben als das herzhafte Pub-Lunch, begleitet von herbem Apfelwein vor einem prasselnden Kaminfeuer. Nach ausgiebiger Mittagsrast wurden die Rucksäcke gerne wieder aufgenommen und die Tour fortgesetzt, bis man zum Tee wieder in der Gemeinschaftsküche der für die Nacht angepeilten Jugendherberge saß und beim landesüblichen Getränk und Keksen seine Kratzer an Armen und Beinen wie Trophäen präsentierte.

Yorkshire Dales

Die sechste Etappe: Hausboote, Landschaftsparks und Weingärten

Insgesamt gab die Ostseite Englands für mich nicht so viel her, da hier die Landwirtschaft überwiegt. Vorbei an Nottingham und vom Charme zahlreicher blumenreicher kleinerer Ortschaften eingenommen, erreichte ich schließlich die Midlands. Eigentlich verschrien als Industriegebiet, jedoch ebenfalls mit seinem eigenen Charme, da von einem attraktiven Kanalsystem durchzogen, auf dem durch verwunschene Feuchtgebiete Hausboote schipperten. In der Tat fand ich entlang schmaler Wasserstraßen auch hübsch angelegte Ortschaften vor und eine wieder ganz eigene Architektur. In der eichenbestandenen Landschaft tauchten immer wieder unvermittelt stilvolle Herrenhäuser auf, die zu Besuch und Führung durch ihr Innenleben einluden und in deren Landschaftsgärten oft Natur und menschliche Einflussnahme sich nicht unterscheiden ließen. Die Midlands insgesamt eine Überraschung, da sie mit dem Vorurteil vom unattraktiven Industriegürtel aufräumten und an landschaftlichen und baulichen Sehenswürdigkeiten durchaus viel zu bieten hatten.

Nach einem kurzen Abstecher in das Gebiet von East Anglia, das – von eher kontinentalem Klima beeinflusst – mich mit Weinanbau, Lavendel- und Sonnen-blumenfeldern überraschte, und einem Besuch in Norwich, unter anderem mit seiner historischen farbenfrohen Häuserzeile Elm Hill, erreichte ich schließlich glücklich, aber erschöpft von körperlicher Aktivität und einem Kaleidoskop von Eindrücken mein Endziel, London. Dort erwartete mich meine Studienkollegin Fiona, im staubigen Dagenham East, gegenüber den Fordwerken. Sozusagen im nüchternen Basislager, von wo aus sie mit mir zum krönenden Abschluss meines Aufenthalts noch zwei Wochen lang die Hauptstadt zu erkunden beabsichtigte.

Der Schmelztiegel London

Der „Two Brewers Inn“

Angela lebte zusammen mit ihrem Vater dort in Dagenham, und Mister Titter durfte sich Wirt des „Two Brewers Inn“ nennen, eines recht geräumigen, jedoch schon vom Zahn der Zeit angenagten Pubs. Das Gasthaus überlebte eigentlich nur wegen der Fordarbeiter, die jeden Morgen und immer zur Mittagszeit dort ihre Arbeitspause verbrachten. Natürlich verbrachten sie nicht nur die Zeit dort, sie griffen heftig zu bei den hausgemachten Hamburgern und Hot Dogs und so manches Pint wanderte über den Tresen. Andere Gäste kannte das „Two Brewers“ kaum, jedoch Mister Titter wusste seine Stammkunden mit extragroßen Hamburgern und ebensolchen Hot Dogs an sich zu binden.

Nun also zwei Wochen mit Fiona im „Two Brewers“. Geplant war, dass wir morgens in der Küche bei den Hamburgern helfen, dann im Pub bedienen und die Nachmittage und Abende in London verbringen würden. Dieser Deal mit Fionas Vater war von uns begeistert aufgenommen worden, und während wir morgens mit Zwiebeln und Hackfleisch hantierten, war es vor allem für mich eine Freude, danach die großartige Stadt kennenzulernen und das berüchtigte U-Bahn-Netz zu verinnerlichen.

 Kirchen, Gotik und Barock

Natürlich führte uns unser erster Ausflug zum Londoner Wahrzeichen im historischen Kern der Stadt, dem Palace of Westminster – oder auch den Houses of Parliament –und dem 96,3 Metern hohen Big Ben oder besser, dem – damals noch – Clock Tower, heute Elisabeth Tower. Welcher Englandfreund ist nicht verliebt in den Bezirk um diese Gebäude, inklusive Westminster Abbey! Unzählige Male in Büchern, auf Bildern oder verfilmt gesehen, bedeutete es dann sozusagen die Erfüllung einer langgehegten Sehnsucht, den neugotischen Fassaden „in echt“ gegenüberzustehen. Immer wieder in Großbritannien – wie schon in Oxford und Cambridge zuvor – überwältigen hier Historie und Tradition, weil sie in Europa nur selten so ausgeprägt gepflegt werden wie in diesem Land. Oft verlacht in der Moderne, fällt es doch schwer, sich ihrem Charme und ihrer Kraft zu entziehen. Die City of Westminster steht für London – auch heute noch.

Westminster

Nach der Neugotik mit ihren schlanken Höhen folgte nun die gedrungene Kuppel der St. Paul`s Cathedral, dem Sitz des Bischofs von London, im englischen Barock. Bis 1963 sollte sie immerhin als höchstes Bauwerk der Stadt mit ihren 111 Metern – 365 Fuß – die Skyline bestimmen. Man muss nicht Royalist sein und die königlichen Hochzeits- und Jubiläumsfeiern in dieser Kirche verfolgt haben, um sich von ihrem Glanz, ihrer Größe und der luftigen Helle beeindrucken zu lassen. Schon immer fanden sich hier die Königlichen und Staatsoberhäupter ein. Und nicht nur zum Gebet, wie es scheint: die Flüstergalerie in der Kuppel, die auf der einen Seite gewisperte Wörter auf der anderen hörbar macht, lud und lädt förmlich ein, Komplotte zu schmieden in frommer Umgebung.

St. Paul`s entließ uns auf den Weg zum nächsten unvermeidlichen Ziel, dem Tower of London. Die Ringburg an der Themse hat – so wurde uns von den „Beefeatern“ berichtet, den Yeoman Warders, wie sie eigentliche heißen, diesen schwarz-rot gewandeten Ordnungshütern des Tower – für vieles herhalten müssen. Sie diente als Residenz, als Waffenkammer, Werkstatt, Gefängnis, Hinrichtungsstätte und als noch einiges mehr. Und heute auch noch als Herberge der Kronjuwelen und ganz nebenbei auch als Museum. Der Tower steht noch immer im Dienste von Ihrer Majestät, es gibt ihn noch, und das ist letztendlich seinen Raben zu verdanken. Sagt doch die Legende, dass der Tower, die Monarchie, das ganze Königreich nur so lange bestehen, wie die Raben den Tower nicht verlassen. Und so ist denn auch – sicherheitshalber – einer aus den Ordnungshütern der Burg, ein Ravenmaster, ein „Rabenmeister“, abgestellt, speziell für die Raben – sie zu füttern, sie bei ihren Namen zu kennen und sie zu pflegen. Mindestens sieben müssen es sein, um das Königreich zu retten…!

So steht`s nicht im Guide…

Bücher könnte man schreiben und wurden geschrieben, will und wollte man die Sights, die Sehenswürdigkeiten, des Schmelztiegels London erfassen. Natürlich sahen wir den Buckingham Palast im Rücken einer thronenden Queen Victoria. Natürlich sahen wir die Royal Albert Hall – erlebten sogar einen Konzertabend dort. Natürlich die Tower Bridge, die National Gallery, das Royal Opera House. In Erinnerung blieben jedoch auch die für Fremdenführer unbedeutenden Erlebnisse, wie zum Beispiel die Tatsache, dass offenbar immer eine Taube auf Lord Nelsons Dreispitz ihren Platz verteidigt, während er auf seinen luftigen einundfünfzig Metern – entsprechend der Höhe seines Flaggschiffs – den Trafalgar Square überschaut. Oder, dass am Swiss Center, das es damals noch gab und an das heute nur noch das Glockenspiel erinnert, an den sonnigen Sommerabenden, an denen wir uns dort zum Käsefondue einfanden, Heerscharen, ja, Tausende von Staren einflogen, um auf den umstehenden Bäumen ihr Nachtlager einzunehmen – mit ohrenbetäubendem Gekreische und zur allgemeinen Verwunderung der anwesenden Touristen, die solches Getier in solchen Mengen in der Großstadt nicht vermuteten. Oder unser Abend am Piccadilly Circus, dem quirligen „Mittelpunkt der Welt“, wie er zu Kolonialzeiten verstanden wurde. In der Tat ein Mittelpunkt, zwar nicht der Welt, aber der Knotenpunkt einiger der wichtigsten Straßen und einer der beliebtesten Treffpunkte Londons. Hier erstand ich meine – damals noch Vinyl-Single – mit dem Song „Mull of Kintyre“ der „Wings“ um Paul McCartney, unserer Hymne, die uns durch das Jahr in Exeter begleitet hatte. Nachts um halb zwölf habe ich sie gekauft, folgend einer plötzlichen Eingebung beim Stöbern in einem stylischen Plattenladen, und ich weiß nicht, wie oft ich sie gehört habe…

Man konnte gut zwei Wochen verbringen mit immer wieder interessanten Ausflügen in die Stadt, zum Sightseeing oder zum Shopping – Harrods und Liberty London – diese Traditionskaufhäuser müssen zumindest noch erwähnt werden. Man kann sich des Flairs und des Charmes Londons kaum entziehen. Das London-Virus erfasst beinahe jeden, schon als Tourist fühlt man sich als Weltbürger in dieser farbenfrohen Stadt. Farbenfroh nicht nur, was die Gestaltung, sondern auch, was die Hautfarben ihrer Bürger und deren Erscheinungsbild angeht. Ich lernte London zu lieben und war dankbar für den fulminanten Abschluss, mit dem der Aufenthalt dort beendet werden sollte.

Das „Namaskar“

Zur Verabschiedung hatte Mister Titter zum Essen eingeladen. Man warf sich in Schale. Er hatte nur verlauten lassen, man würde in die Regent Street fahren, eine durchaus noble Adresse mit ihren Neobarock-Fassaden. Und so hielt das Londoner Taxi dann auch genau vor einer solchen. Man stieg aus, jedoch nirgendwo war das typische Entrée eines Restaurants zu entdecken. Eine schlichte Holztür reihte sich an die andere und mir blieb verborgen, wo man hier speisen sollte. Mister Titter jedoch steuerte zielstrebig auf eine orangerote Türe zu und drückte einen polierten Messingknopf. Die Türe öffnete sich in einen Aufzug und wir drei potentiellen Gäste drängten uns hinein. Mister Titter kannte seinen Weg. Wieder drückte er einen Knopf und der Lift surrte aufwärts. Als sich die Türe wiederum öffnete, musste ich tief durchatmen. Ein übergroßer Inder mit noch größerem Turban hatte breitbeinig den Blick auf den hinter ihm liegenden Raum verstellt und trat nun beiseite, um Platz zu machen und die Ansicht auf den Gastraum freizugeben. Ein Traum in Grün-Türkis und Gold tat sich vor unseren Augen auf. Ein indisches Restaurant, dessen Einrichtung dem Taj Mahal hätte entnommen sein können. Ein langgezogener Raum, in dem in drei Reihen auf türkisgrünem Teppich fein in Beige, Gold und Rosé eingedeckte Tische aufgereiht standen. Jeden Tisch schmückte eine auf einer geschnitzten Holzsäule angebrachte goldfarbene Laterne, die das Ensemble samt farbenfroher Stühle beleuchtete. An der Decke – versetzt angebracht – schwangen sanft-rhythmisch armlange Volants an Gestellen, gedacht als Fächer, die den delikaten Duft der indischen Gewürzküche im Raum verteilten. Ebenfalls türkis-goldfarbene Gardinen rahmten die Fenster zur Regent Street hin ein, während fremdartige Musik das Märchenhafte dieser Räumlichkeit vollendete.

Der riesige Inder komplimentierte uns drei zu einem reservierten Tisch und es erübrigt sich, zu berichten, dass die Speisen mit der Gestaltung des Raumes korrelierten. Emsige Kellner ließen Silberplatten und farbenfrohes Porzellan auf den Tisch gleiten, bis letztendlich ein dreistöckiger Dessertwagen mit einer Vielzahl von Köstlichkeiten diesem sinnlichen Rausch ein Ende setzte, da eine gewisse Vollkommenheit erreicht worden war. Mister Titter wickelte diskret die Bezahlung ab, und als die Regent Street uns wiederhatte, war sich keiner von uns sicher, ob das gerade Erlebte dem Bereich der Realität zugehörig war.

So schließlich gestaltete sich das Ende meiner Reise. Nun war die Insel im Ganzen bewandert, betrachtet und erkundet. Ein landeskundliches und erinnerungsträchtiges Abenteuer, aus dem ich lebenslang schöpfen sollte. Großbritannien ist schön, ist originell, hat Charme und Stil – Pomp und Tradition inbegriffen. Bonny Ol` England –  we love you!

(Einige Namen im Text wurden verändert)