Als Großvater die Großmutter nahm

von Ute Lenke

Reisegeschichten und -erzählungen gehören bei Familienfesten und anderen geselligen Zusammenkünften zum Repertoire. Heute berichtet man von seinen Reisen, bei denen es meistens um schneller, höher, weiter geht: die letzte Tauchreise nach Ägypten wird getoppt vom Tauchen in der Karibik. Wandern im Allgäu ist nichts gegen Wandern in der kanadischen Wildnis mit obligatorischer Bärenbegegnung.  

In unserer Familiengeschichte wurden gerne die Anekdoten über die ganz anderen Reisegewohnheiten meiner Großeltern erzählt:

Die Hochzeitsreise

Gondel in Venedig, sw-Foto
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sw-Foto Venedig mit Gondel und Gondoliere vor dem Dogenpalast

Der Großvater reiste für sein Leben gern, und als er 1902 heiratete, war für ihn selbstverständlich, dass er eine Hochzeitsreise machen würde. Das gehörte doch schließlich dazu: die Hochzeitsreise nach Venedig. Leider litt seine Auserwählte an Reisekrankheit und weigerte sich entschieden, auch nur einen Schritt in so etwas Gefährliches wie diese neumodischen, rasenden Eisenbahnen zu tun – da wurde ihr ja schon beim Anblick schlecht. Nicht mal einen Bahnsteig würde sie betreten! Aber Großvater wusste Rat: er reiste nach Venedig, allerdings nicht allein. Omas Schwester erklärte sich bereit, ihren neuen Schwager zu begleiten. Moralische Bedenken hatte damals keiner der Beteiligten – Opa war treu.

Nach Berlin

Diese Geschichte spielt 30 Jahre später. Der 1903 geborene Sohn war inzwischen selbst schon Familienvater und lebte mit Frau und Tochter in Berlin. Ziemlich weit weg von Hildesheim – man konnte nicht mal eben nach Berlin fahren, um das geliebte Enkelkind zu sehen. Aber warum eigentlich nicht?  Eisenbahnverbindungen nach Berlin waren um 1930 schnell und zahlreich – glaubt man heutigen Kritiken, waren sie damals besser als heute mit den ICEs. Meine Eltern suchten eine gute Verbindung heraus, Opa konnte kommen. D-Züge fuhren damals schon 120 km/h schnell, nach Berlin waren es keine 300 km, also in weniger als 3 Stunden konnte er in Berlin sein. Aber Opa war empört: die Reise kostete viel Geld, und für das viele Geld wollte er auch Gegenleistung haben. Nein, nicht schnell, sondern ganz langsam und gemütlich wollte er reisen. Er nahm Bummelzüge, Umwege und musste mehrmals umsteigen. Aber er kam zufrieden in Berlin an, und meine Schwester genoss die Zeit mit ihrem heißgeliebten Opapa.

Und Oma?

Trotz ihrer Reisekrankheit war auch Oma mobil. Sie nutzte aber ihre eigenen Füße.

Eine Reise unternahm sie dennoch: Ihr Bruder war als Soldat in Hannover stationiert. Auch eine Schwester lebte dort. Gut 30 km von Hildesheim entfernt – keine Entfernung, wenn man ein Leben lang zu Fuß unterwegs ist.  Sie packte Kinderwagen, Baby und Proviant ein und lief los. 30 km zu Fuß, mit Pausen – sie war sicher den ganzen Tag unterwegs -und ein paar Tage später nochmal dasselbe zurück. Auf diese Reise war sie zu recht sehr stolz.

Sie fuhr nur ein einziges Mal mit dem Auto: mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus, da war sie 92, und die Rückfahrt erlebte sie nicht mehr.