Handynacken und SMS-Daumen

von Ute Lenke

Wir haben sie alle schon einmal gesehen: die Leute im Straßenbild, die gedankenverloren, den Kopf nach unten auf ihr Handy starren, schmerzhafte Begegnungen mit Laternenpfählen oder schlimmeres in Kauf nehmen; Pärchen, die nebeneinander auf der Parkbank sitzen und schweigend mit –nein:  nicht miteinander, sondern mit ihrem Handy kommunizieren. Und da fragt man sich doch: muss das sein?

Ja, es muss…

Von Ratten und Menschen

1954 machten 2 amerikanische Forscher, James Olds und Peter Milner, eine überraschende Entdeckung: Sie hatten zu Versuchszwecken Ratten Elektroden ins Gehirn gepflanzt; diese Elektroden waren mit elektrischen Schaltern verbunden, die die Ratten betätigen konnten, um Futter zu bekommen. Das heißt, um Futter zu bekommen, mussten die Ratten jedes Mal auch Stromstöße ertragen, was ja nun eigentlich auch für Ratten unangenehm ist. Bei einem Versuch hatten die Forscher aber die Elektroden nicht exakt platziert, und da geschah etwas Unerwartetes: die Ratten betätigten immer wieder nur den Schalter, der die Stromstöße auslöste. Sie drückten immer wieder und immer öfter auf den Schalter und verpassten sich dadurch selbst ständig neue Stromschläge; das Futter interessierte sie nicht mehr, sie fraßen  nicht mehr, nur noch die elektrische Stimulation durch den „Glückshebel“ interessierte sie, teilweise brachen sie vor Erschöpfung zusammen. Die Forscher hatten aus Versehen bei den Ratten das Belohnungsareal im Gehirn stimuliert.

Nun ist der Mensch zwar keine Ratte. Aber auch ein menschliches Gehirn hat ein Belohnungsareal, das stimuliert werden kann. Manche Menschen sind geradezu süchtig nach Belohnungen, was allerlei Krankheiten oder Fehlverhalten zur Folge haben kann.

Was hat das mit dem Handy zu tun?

Das Ergebnis des Versuchs mit den Ratten legt eine Deutung für das eingangs geschilderte Verhalten mancher Handynutzer nahe: jederzeit und immer und überall erreichbar zu sein, per Tastendruck zu kommunizieren, sofort Antwort zu bekommen, Bilder, die „Selfies“, von sich zu verschicken und dafür mit „Likes“ belohnt zu werden – je mehr desto besser – scheint „lohnender“ zu sein, als sich in Echtzeit mit der Realität auseinander zu setzen. Dazu zu gehören zu etwas, was alle machen, auch die Anerkennung seiner/ihrer Peergroup: das ist  Belohnung.  Selbst die Sehnsucht nach Nähe zu geliebten Menschen scheint das Handy zu befriedigen, sind sie doch über Bild und Stimme jederzeit verfügbar.

Doch ist das wirklich so?

Das schnelle Glück aus der Retorte ist zweifelhaft. Es ersetzt keine menschliche Nähe, es liefert „Realität aus zweiter Hand“ (Marshall McLuhan), und weil es so unbefriedigend ist, will man immer mehr desselben und kann schließlich wie die Ratten im Labor gar nicht mehr aufhören, auf die Tasten zu drücken. Man nennt es auch Sucht.

Die Folgen dieser Sucht haben neue Krankheiten hervorgebracht, sie heißen „Handynacken“ und „SMS-Daumen“, von Unfällen ganz zu schweigen. Am Ende geht es uns so wie Goethes „Zauberlehrling“: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister werd´ ich nun nicht los.“

Nachtrag: Suchtmittel Social Media

Österreichische Psychologen haben in einer Studie getestet, wie sich der Verzicht auf Social-Media auswirkt. Schon eine einwöchige Abstinenz führe zu klassischen Entzugserscheinungen. Überraschend für die Forscher war, dass 60 Prozent der Probanden – obwohl sie zugestimmt haben, für eine Woche an dem Experiment teilzunehmen – doch Social-Media-Angebote für ein paar Minuten genutzt haben. Die Menschen ohne Social-Media zeigten Erscheinungen von deutlich gesteigertem Verlangen; die Gier war sogar dann noch messbar, als Social-Media bereits wieder genutzt werden durfte. Sie hatten Angst, dass sie etwas verpassen könnten. Dabei waren andere Kommunikationskanäle wie Textnachrichten oder E-Mails während der Test-Woche erlaubt.

zdnet.de
TechTicker Conrad 15.11.2018

Bildnachweis:
Grafik: Ute Lenke
Skinner-Box: CCO Wikimedia