Ein bisschen mehr Europa?

von Inga Strode

Liest man die Nachrichten, so wird einem suggeriert, Europa stecke in einer Krise. Eigentlich redet man hier meist von der Europäischen Union, wobei dies für viele Menschen in Deutschland das Gleiche ist.

Anfänge der Europäischen Union

Die Europäische Union hat als ein zaghafter Versuch angefangen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa aufzubauen. Diese Beziehungen, insbesondere mit dem geförderten deutsch-französischen Austausch konnten die gegenseitigen Vorurteile abbauen. Somit haben diese Aktivitäten das größte Ziel erreichen können: kein Krieg mehr in Europa. Nach den erfolgreichen Anfängen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, wurde diese um eine politische Zusammenarbeit erweitert. Ein gemeinsames Parlament und eine gemeinsame Währung wurden eingeführt. Spätestens da war man in der Realpolitik angekommen.

Die Osterweiterung der EU

Gekennzeichnet durch die politischen Veränderungen ab Ende der 80er Jahre und mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, war dies wie ein Aufbruch in eine neue Welt. Insbesondere für die Kandidatenländer, die im Rahmen der großen Osterweiterung der EU beigetreten sind. Als junger Mensch war für mich der Beitritt Lettlands 2004 eine großartige Sache. Nicht weil ich vorrangig an freies Reisen oder Wohlstandswachstum  gedacht habe. Es war für mich ein Zeichen deafür, dass Lettland als eigenständiger Staat akzeptiert wird – es ist endlich in Europa „angekommen“. Lettland ist nun mit anderen europäischen Ländern in einer Wertegemeinschaft verbunden.

Beitritt Lettlands

Lettische Fahne

Die Zustimmung in Lettland zur Europäischen Union war übrigens nicht so überschwänglich, wie man sich hätte vorstellen können. Nur ca. 60% der Wählerinnen und Wähler haben dafür gestimmt. Zeitweilig gab es sehr starke kritische Stimmen, sodass die lettische Regierung eine Kampagne FÜR den Beitritt veranstaltet hat. Die Kernthese für die Rentner lautete: Damit ihre Enkelkinder es mal besser haben.

Die Kritiker des Beitritts zur Europäischen Union haben folgende Punkte angeprangert:

  • den großen Regierungs- und Verwaltungsapparat
  • eine Gemeinschaftswährung
  • den Durchsetzungszwang im EU-Parlament beschlossener Gesetzte sowie
  • fehlende klare Regelungen zum Ausstieg eines Mitgliedstaates.

Dies waren meist Leute mittleren Alters, die den Alltag in der Sowjetunion einschließlich einer Gemeinschaftswährung und Hyperinflation erlebt hatten.
Für viele sogenannte alte EU-Länder war die Osterweiterung mit gewisser Angst verbunden: Die neuen Mitglieder würden massenweise ihre Heimat verlassen, in der Hoffnung in den alten Mitgliedstaaten finanzielle Vorteile zu haben. In der Tat sind sehr viele Menschen nach dem EU-Beitritt nach Irland und Großbritannien gegangen. Dies waren Länder, die keine 7-Jahr-Übergangsregelung eingeführt hatten; die Gehaltsunterschiede waren damals sehr groß.

Wer sind die Europäer?

Fragt man die Leute, wer sie sind, so wird ein Franzose aus Paris sagen: „Ich bin ein Franzose“. Ein Este aus Tartu wird sagen: „Ich bin ein Este“. Ich bin davon überzeugt, dass beide sich aber auch als Europäer verstehen. Zumindest im Sinne von europäischer Denkweise und europäischem Lebensstil.

Die Europäische Union ist ein Staatenbund, bestehend aus (noch) 28 Mitgliedern. Besteht also nicht aus Bundesstaaten im Gegensatz zu den USA. Denn ein Amerikaner wird sich zuerst als Amerikaner verstehen und nicht als Einwohner von New Jersey. Und seine Hymne wird die Amerikanische sein.

Wo stehen wir heute?

Heute steckt die Europäische Union, aber auch zweifelsohne die ganze Welt in einer Krise. Die europäische Krise hat ihre volle Wucht durch die äußeren Einflüsse erhalten: Banken- und Finanzkrise sowie der Kriegs- und Flüchtlingsproblematik. Doch sehr viele Probleme sind meines Erachtens auch hausgemacht.

Heute stehen sich zwei unversöhnliche Parteien gegenüber – die absoluten EU-Befürworter und die Zweifler. Dementsprechend verteilen sich auch die gegenseitigen Beschuldigungen. Die Einen seien Nationalisten und Egoisten, die anderen – Eurokraten, Träumer oder Nationalstaatenhasser.

Und während beide Parteien in gegensätzlichen Richtungen rudern, bleibt das Boot einfach auf der Stelle stehen. Die gemeinschaftlichen Gesetze werden als irrelevant (Krümmung der Banane), bevormundend oder lästig empfunden. Und das gemeinsame Geld – ja, beim Geld hört die Freundschaft auf! Dies merkt man deutlich in der Rhetorik seit der Griechenlandkrise: Es gibt nun die Faulen und die Tüchtigen, die Bezahlenden und die Profitierenden. Die offenen Grenzen sorgen nicht nur für Reisen ohne Grenzkontrolle oder einen freien Warenfluss, sondern auch für die Möglichkeit international Verbrechen zu begehen. Berichte über grenzüberschreitend tätige professionelle Einbrecherbanden sind wohl bekannt.

Ausblick


Ich glaube, dass das Misstrauen zehn Jahre nach der letzten EU-Erweiterung gegenüber der Politik, Verwaltung und den Nachbarn so groß ist wie noch nie. Und das alles, obwohl man doch so viel unternommen hat, um „mehr Europa“ zu haben. Vielleicht ist aber genau dies verkehrt? Die Europäer haben stets mit Stolz auf ihre eigene Sprache und Kultur gesetzt. Ich glaube, dass es einen einheitlichen EU-Bundesstaat nicht geben kann.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die Europäische Union ein großartiges Projekt ist. Und dennoch bin ich auch froh, dass man sie verlassen kann, ohne dass es eines Krieges bedarf. Und ich hoffe, dass der Austritt Großbritanniens auch positive Erfahrungen bringen wird: Ein konstruktiver Austritt ohne gegenseitige Beschuldigungen, aber auch eine konstruktive Eigenreflexion in der EU. Vielleicht kommt am Ende eine gesetzlich nicht so stark ausgestaltete Europäische Union heraus. Diese könnte dann dazu führen, dass wir wieder mehr nette europäische Nachbarn bekämen. Nicht weil es sie früher nicht gab, sondern weil sich alle fremd geworden sind. Nachbarn, bei denen man mit Kuchen oder zum Glas Wein vorbeischaut. Und während deren Abwesenheit gießt man dann auch gerne die Blumen.