Die Hildesheimer Rose

von Ute Lenke

Der Mariendom und die Michaeliskirche in Hildesheim zählen seit 1985 zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Doch ein Teil des Domes und für Hildesheimer Lokalpatrioten ein sehr wichtiger Teil ist der 1000jährige Rosenstock an der Apsis des Domes, der schon lange vor der Ernennung des Mariendomes zum Weltkulturerbe zur Berühmtheit des Domes und damit auch Hildesheims beigetragen hat. Von diesem Naturwunder möchte ich an dieser Stelle berichten.

Zur Einführung

Die beiden Gebäude, Mariendom und Michaeliskirche und die zu ihnen gehörenden Kunstschätze vermitteln einen umfassenden Zugang zum Verständnis der Einrichtung romanischer Kirchen im christlichen Abendland. Über den Dom und die Michaeliskirche und ihre Sehenswürdigkeiten kann man sich schnell und umfassender, als es hier möglich wäre, über folgende Links informieren:

http://www.unesco.de/kultur/welterbe/welterbe-deutschland/hildesheim.htmlhttp://www.hildesheim.de/magazin/magazin.php?keepmenu=inactive&menuid=2177&topmenu=4

Die Legende

Die Gründungsgeschichte soll sich so zugetragen haben:
Kaiser Ludwig der Fromme verirrte sich auf der Jagd nach einem weißen Hirsch in den dunklen Wäldern Niedersachsens. Sein Gefolge verlor ihn aus den Augen und alles Suchen, Rufen, Hörner blasen half nicht. Schließlich strauchelte auch noch sein Pferd, Ludwig musste zu Fuß weiter und verirrte sich immer tiefer in den Wald. Erschöpft setzte sich der Kaiser auf den Boden, hing sein Amulett, ein silbernes Reliquiar mit Reliquien der Heiligen Jungfrau Maria an einen Strauch und schlief ein. Im Traum erschien ihm Maria und befahl ihm, an dieser Stelle eine Kirche zu ihren Ehren zu bauen. Er erwachte, wollte sein Amulett wieder vom Strauch nehmen, es ließ sich aber nicht mehr abnehmen, war fest mit den Dornen und Zweigen eines Rosenstrauchs verwachsen. Plötzlich fand er auch sein Jagdgefolge wieder; er aber verkündete, dass an dieser Stelle eine Kirche zu errichten sei. Darum befindet sich noch heute an eben dieser Stelle die Apsis des Domes mit dem Rosenstock, der allen Katastrophen zum Trotz immer wieder neu aufblühte und heute von einem eigens für ihn angestellten Gärtner gehegt und gepflegt wird.

Rosenstock am Hildesheimer Dom
Fotos: Eigentum der Autorin

Die Wirklichkeit

Diese Legende erzählt man in verschiedenen Variationen. Wie viele Sagen und Legenden enthält sie einen wahren Kern über die Gründung des Bistums.
Ludwig der Fromme, Sohn und Nachfolger Karls des Großen, wollte sein Reich nach Nordwesten ausdehnen und ein neues kirchliches Zentrum errichten. In Elze gab es bereits ein Missionszentrum als Bollwerk gegen die noch immer störrischen Sachsen, das zum Bistum ausgebaut werden sollte. Dass es dann 815 doch in Hildesheim errichtet und 872 als Bistum geweiht wurde, lag möglicherweise ganz profan an den besseren Verkehrswegen in und um Hildesheim, vielleicht auch daran, dass der Dombau über einem alten Heiden-Heiligtum errichtet werden konnte (was die Sachsen vielleicht mit dem erzwungenen Übertritt zum Christentum versöhnte). Die Legende vom vergessenen und nicht mehr aus einem Rosenstock zu befreienden Reliquiar aber hält sich hartnäckig. Christus- und Marienreliquien gehören zum Domschatz als Gründungsreliquiare und haben ihren Ehrenplatz im Dom.

Noch ein Rosenwunder

Im Laufe der Geschichte erlebte der Dom zahlreiche Kriege, Zerstörungen, Brände, Umbauten, die Reformation, Napoleons Säkularisation: der Rosenstock überstand sie alle. Das Ende schien 1945 gekommen: einer der letzten und mit der schwersten Bombenangriffe auf Deutschland vernichtet am 22. März fast die ganze Altstadt Hildesheims – einst das Nürnberg des Nordens genannt; das Stadtzentrum ist ebenso total zerstört, auch der Dom wird schwer getroffen und brennt. Mittel- und Seitenschiff und alle geraden Mauern stürzen ein – der Dom ist ein Trümmerhaufen. Nur ein Teil der Apsis steht noch, aber die einstürzenden Mauern begraben den Rosenstock unter sich, er brennt ebenfalls.
Die Stadt Hildesheim, den Dom, den Rosenstock gibt es nicht mehr.
Im Mai 1945 ist der Krieg zu ende, Trümmer werden wie überall in Deutschland beiseite geräumt. Da entdecken die Hildesheimer an ihrem verbrannten Rosenstock grüne Triebe: die Rose hat überlebt! Für die Hildesheimer das Zeichen: es geht weiter. Seit 1945 werden am Rosenstock Jahr für Jahr die neuen Triebe mit kleinen Emailleschildchen gekennzeichnet. Eine neue Legende hat sich gebildet: solange die Rose blüht, geht es der Stadt gut.

Etwas Botanik

Hundsrose (rosa canina)
Fotos: Eigentum der Autorin

Für Wunder hat unsere wissenschaftsgläubige Zeit wenig Verständnis. Darum ist längst erforscht, was es mit dieser Rose und dem Gründungsmythos auf sich hat.
Bei dieser Rose handelt es sich um die „rosa canina“ – das heißt eine ganz „gemeine Hundsrose“, wie sie an jedem Wegesrand, an Büschen und an Stränden von Nord-und Ostsee blüht. Nichts Wundersames also. Aber diese Rose hat Eigenschaften, die sie tatsächlich mehrere hundert Jahre alt werden und überleben lassen können. Die Rose wächst normalerweise bis zu 3m in der Höhe – in Hildesheim hat sie aber eine Höhe von über 10m. Ihre Blütezeit ist kurz, normalerweise im April bis Mai: die Blüte der Hildesheimer Rose ist also nur kurz, für etwa 2-3 Wochen zu sehen. In dieser Zeit ist sie natürlich ein Touristenmagnet für Hildesheim.

Aber das Besondere an rosa canina außer ihrer ungewöhnlichen Wuchshöhe von ca. 10m ist noch etwas : sie vermehrt sich eingeschlechtlich. Wie Untersuchungen ergeben haben bedeutet das, dass diese Rose wohl tatsächlich etwa aus der Zeit Ludwigs des Frommen stammt und sich seit seiner Zeit nicht verändert hat – es könnte Ludwigs Rose von 815 sein, wenn auch durch zahlreiche Triebe erneuert. Allen Skeptikern zum Trotz: unter solchen Bedingungen, wie sie sie in Hildesheim am Dom herrschten – und herrschen- kann eine rosa canina tatsächlich 1000 Jahre und älter werden.

Etwas Archäologie

Im Lauf der Wiederaufbaumaßnahmen und besonders im Rahmen der Bautätigkeiten für die Aufnahme ins Weltkulturerbe fanden am Dom zahlreiche archäologische Grabungen und Untersuchungen statt.
Die Ergebnisse belegen, dass an der Gründungslegende nicht allzu viel Wahres ist.

Der Domhügel lag an einem wichtigen Fernhandelsweg und war schon vor 815 besiedelt. Man fand einen Friedhof, dessen Gräber zwar nach christlicher Sitte westöstlich ausgerichtet waren, den dort bestatteten Toten waren aber -noch ganz unchristlich – Grabbeigaben wie Messer, Gürtel und eine Glasperlenkette mitgegeben worden.

Diesen Friedhof, der vermutlich zu einer Ortschaft „Hilduins Heim“ gehörte, ließ der erste Bischof Gunthar (815-834) durch eine Bischofskirche überbauen, die zum Grundstock des späteren Domes wurde. Die erste Gründungskapelle wurde bald zu klein; Bischof Gunthar baute eine größere Kirche mit zwei hohen Türmen – zur damaligen Zeit noch ungewöhnlich. Den nachfolgenden Bischöfen wurde die Kirche zu schlicht, so dass 872 unter Bischof Altfried ein Neubau geweiht werden konnte, von dem noch heute Reste zu sehen sind. Sein jetziges Aussehen erhielt der Dom wohl erst seit dem 13. Und 14. Jahrhundert und seit dieser Zeit ist auch der Rosenstock nachzuweisen.

Nachwort: Die Hildesheimer und ihre Rose

Für mich sind mit den Geschichten um die 1000jährige Rose auch persönliche Erinnerungen verbunden. Nachdem wir schon in Augsburg ausgebombt waren, haben wir den letzten verheerenden Bombenangriff in Hildesheim auch noch miterlebt, und ich kann mich an die Gespräche der Erwachsenen erinnern: der Dom und die Rose zerstört, das war das Ende.
Aber der Rosenstock hatte überlebt. Als ich 1948 eingeschult wurde, führte einer unserer ersten Ausflüge zum Rosenstock: wir sollten das Wunder mit eigenen Augen sehen. Auch die Legenden um die Gründung wurden immer wieder gern erzählt. Ich weiß nicht mehr, ob ich sehr beeindruckt war.
Damals interessierte mich etwas Anderes mehr: meine geliebte Großmutter ging regelmäßig in den nur notdürftig reparierten Dom zum Beten, aber nie nahm sie mich mit! Ich hätte den Dom zu gerne von innen gesehen.
Wenn ich später wieder nach Hildesheim kam, kam ich auch nicht in den Dom: er wurde repariert, umgebaut, war geschlossen. Auch die Blüte des Rosenstocks zu sehen, habe ich bis heute noch nicht geschafft. Dafür schenkten mir meine Tanten später Rosen: die Rose als Hildesheimer Symbol in Silber – Löffel mit der Rose, Gabeln mit der Rose. Und wer in Hildesheim die Augen offen hält wird sie überall entdecken: die Hildesheimer Rose.

Hildesheimer Rose als Dekor
Fotos: Eigentum der Autorin

Quellennachweis

Quellen:
Domkapitel Hildesheim (Hrsg): Der Hildesheimer Mariendom – Kathedrale und Welterbe. 2014

Hildegard Mathies: Die Hildesheimer Rose. Ein blühendes Wunder seit mehr als 1000 Jahren. 2014

Hildesheim Merian Heft XXVI-1

Wolfgang von Duisburg: Hildesheim. Blätter der Erinnerung. 1947

http://www.unesco.de/kultur/welterbe/welterbe-deutschland/hildesheim.html
http://www.hildesheim.de/magazin/magazin.php?keepmenu=inactive&menuid=2177&topmenu=4

Fotos: Eigentum der Autorin