Ein architektonischer Rundgang auf der Insel Helgoland

von Ute Lenke

Deutschlands „einzige Hochseeinsel“ ist Vielen nur bekannt als Paradies für zollfreies Einkaufen. Doch die Insel hat weit mehr zu bieten; sie hat eine wechselvolle Geschichte, ein gesundes Klima, eine interessante Pflanzen- und Tierwelt und eine bemerkenswerte Architektur.

Das heutige Helgoland

Helgoland hat nicht immer so ausgesehen, wie jetzt. Als die Insel 1952 an Deutschland zurückgegeben wurde, war sie total zerstört und menschenleer. Die nach Kriegsende aufs Festland evakuierten Helgoländer wollten jedoch zurück auf ihre Insel und so stellte sich die Frage: Wiederaufbau nach alten Vorbildern oder aber Neubau, der zugleich die Chance bot, alte Missstände zu korrigieren.

Planung

Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, an dem die seinerzeit bekanntesten Architekten teilnahmen. Die Neugestaltung sollte die Eigenart des Insellebens und der Bevölkerung, die Erfordernisse des Bade- und Fremdenverkehrs und auch die schon in der Vorkriegszeit vorhandenen wissenschaftlichen Institute berücksichtigen. Es sollte aber andererseits kein Wiederaufbau der historischen Vorbilder werden.

Das Ergebnis ist heute eine Bebauung, die die klimatischen Bedingungen, die neue Landschaftsformation und die Orientierung an modernen skandinavischen Bauformen berücksichtigt. Die Helgoländer selber als zukünftige Bewohner hatten damals wenig Einfluss darauf, wie sie ihre Häuser gestaltet haben wollten, was in der Folge und auch heute noch für Unmut sorgt.

Erster Eindruck

Der erste Eindruck, den Tagestouristen wie Langzeiturlauber von der Insel erhalten, sind die vielen bunten Buden an der Promenade, die man eher in südlichen Ländern erwartet, aber nicht auf einer Insel mitten in der meist stürmischen Nordsee. Auch im Ort selber sind die Häuser klein, eng aneinander geduckt und bunt gestrichen. Vielleicht fällt dem Einen oder Anderen auch das Kuriosum auf, dass die Insel in Unter- und Oberland geteilt ist, die durch einen Fahrstuhl miteinander verbunden sind. Was es mit dieser ungewöhnlichen Bauweise auf sich hat, haben wir bei einer architektonisch- historischen Stadtführung erfahren.

Beginnen wir also mit dem architektonischen Rundgang bei den

Hummerbuden

Sie sind der erste Eindruck, wenn man sich der Insel nähert und nach dem Ausbooten, festen Boden betritt. Es gab sie schon im alten Helgoland: sie dienten den Fischern, vor allem den Hummerfischern als Lagerschuppen, Räucherkammer, Werkstatt, Notunterkunft.

Im neuen Helgoland entstanden sie als erste am Rande des Hafengeländes. Neben der herkömmlichen Funktion boten sie zunächst vor allem Unterkünfte für die Bauarbeiter, denn es gab ja sonst noch nichts, wo man leben und arbeiten konnte. Eine wichtige Neuerung war jedoch ihre Funktion als Stützmauern für das nach der versuchten Sprengung der Insel (des „Big Bang“) neu entstandene Mittelland. Neu und ungewöhnlich ist auch der farbenfrohe Anstrich der Holzfassaden, der an skandinavische Fischersiedlungen erinnert und für Helgoland zu einem identitätsstiftenden Merkmal geworden ist.

Heute beherbergen diese Hummerbuden neben Fischereiutensilien auch Gaststätten, Butiken mit Schmuck und Fossilien, Standesamt und Naturschutzverein. Bei gutem Wetter herrscht dort Leben und Treiben, wie auf einem südlichen Marktplatz.

Der Lung Wai

Einkaufsmeile Lung Wai

Ist die Hauptverkehrsader und Einkaufsmeile der Insel. Er folgt dem historischen Verlauf der ehemaligen „Kaiserstrasse“, der Flaniermeile im alten Helgoland.

Die meisten Besucher der Insel sind Tagesausflügler, die sich mehr für den zollfreien Einkauf von Spirituosen, Parfüms und Zigaretten interessieren, zielstrebig die Einkaufsmeile, den Lung Wai, stürmen und danach bei Bier und Eiergrog auf das Ausbooten für die Heimfahrt warten. Einige schaffen auch noch den Rundgang im Oberland zur Langen Anna und zurück, der neuerdings auch bequem als Insel-Rundfahrt mit einem Elektrobus möglich ist. Spätestens nach 16 Uhr aber haben Urlauber und Helgoländer die Insel wieder für sich.

Den erwarteten und erhofften Touristenstrom – zugleich die Haupteinnahmequelle der Helgoländer – zu kanalisieren, war ein Anliegen der Städtebauer. Darum kann man nach dem Ausbooten direkt in die Geschäfte und geradeaus in den Lung Wai und von dort zum Fahrstuhl ins Oberland gelangen.

Die Treppe

Die wenigsten Ausflügler wissen, dass es auch eine Treppe ins Oberland gibt; sie folgt wie der Fahrstuhl ebenfalls ihrem historischen Vorbild: ihre Stufen sind kürzer, sie hat Absätze und ist zickzackförmig angelegt; der Grund: als es den Fahrstuhl noch nicht gab, mussten alle Lasten, Wohnungseinrichtung und was man sonst braucht, mühsam ins Oberland geschleppt werden – darum die kürzeren Stufen und Absätze zum Ausruhen und Absetzen der Lasten. Wer heute „unbelastet“ die Treppe nach oben nimmt, wird mit Ausblicken auf Meer und Hafen belohnt. Für Teilnehmer am Helgoländer Marathonlauf ist sie außerdem ein beliebtes Trainingsobjekt. Um schwere Lasten nach oben zu transportieren gibt es heute übrigens Elektrokarren und einen gemächlich ansteigenden Weg.

Die Innenstadtbebauung

Die ursprüngliche und später die Vorkriegsbebauung der Insel war eng, verwinkelt und überwiegend in West-Ostrichtung angelegt; dadurch waren die Häuser den vorherrschenden Westwinden und besonders den Herbst- und Winterstürmen schutzlos ausgesetzt.

Der schnelle Aufstieg Helgolands zum mondänen Seebad zur Kaiserzeit und als Marinestützpunkt hatte darüber hinaus Bausünden zur Folge, die nicht gerade zum Wohle der Insel beitrugen. Als mondänes Seebad der Kaiser- und Vorkriegszeit hatte Helgoland sogar ein eigenes Theater, in dem viele bekannte Schauspieler und Sänger gastierten. Auf dem Gelände des ehemaligen Theaterviertels entstanden nun die ersten Versuchswohnhäuser und nur ein Schild erinnert an die berühmte Vergangenheit.

Die Straßen

Straßenflucht

Das neue Straßenbild lehnt sich zwar noch an die alten, verschachtelten Vorbilder an, bietet heute aber den Stürmen keine Angriffsfläche mehr, weil die Straßen leicht gebogen verlaufen und die Häuser versetzt sind: wer am Anfang einer Straße steht, blickt immer nur bis zum nächsten Haus, niemals durch die ganze Straße bis zum Ende; um jedem Haus trotz der engen Bebauung genug Licht und Sonne zu geben, sind die Dächer asymmetrisch. Obwohl vom Platz her beengt, ist dadurch eine offene, vielgestaltige und abwechslungsreiche Struktur entstanden.

Anfangs waren auch keine Dachgauben zugelassen, um dem Wind keine Angriffsflächen zu bieten; diese Vorschrift ist inzwischen, wie viele andere, gelockert.

Die Hausfassaden sind in den Farben Helgolands gehalten: „grün ist das Land, rot ist die Kant, weiß ist der Sand – das sind die Farben von Helgoland“; dazu die jeweiligen Mischfarben, jedoch in einer eigens entwickelten Farbpalette, „Helgoland-Farben“ genannt. Die kräftigen Farben der Hummerbuden nach skandinavischen Vorbildern sollten sich von den gebrochenen Erdfarben der Wohnhäuser im Unterland unterscheiden, und für die Bebauung im Oberland wurden ganz bewusst lichte, helle Farben gewählt, die zum Himmel passen.

Die Wohnhäuser

Blick vom Oberland

Die Wohnbebauung erfolgte in Etappen als „Funktionsentmischung“: zunächst die Hafen- und Promenadenanlagen, dann die Häuser im Unterland. Sie waren geschützt vor Wind und Wetter hinter den Hafenanlagen, Hotels und Pensionshäusern angelegt. In der nächsten  Etappe erfolgte die Bebauung im Oberland, wo noch immer Neubauten entstehen.

Die Wohnhäuser folgen wie die Straßen dem alten, verschachtelten Straßenbild, sind aber anders gestaltet: sie sind zwar eng und kompakt, ihre zweigeschossige Bauweise ist vom sozialen Wohnungsbau der Nachkriegszeit beeinflußt, bietet aber dennoch Licht, Luft und Raum für Familien (und anfangs auch Gäste). Sie haben Pultdächer mit asymmetrischen Giebelprofilen, versetzte Baufluchten und Balkone. Den Bewohnern sollte von jedem Haus aus ein Blick aufs Meer möglich sein.

Wer heute vom Oberland auf die Häuser im Unterland und aufs Meer hinunterblickt, erkennt die Absicht der Architekten: die ungewöhnlichen Dachformen vermitteln den Eindruck von bewegter Meeresoberfläche, wodurch der Inselcharakter auch für die Bewohner und Gäste im Oberland betont wird.

Hier beenden wir unseren architektonisch-historischen Rundgang; natürlich entstanden auch Zweckbauten, wie die Schule, Altenheim, Krankenhaus, die Biologische Anstalt und die Jugendherberge, nicht zu vergessen der Leuchtturm und die alten Bunkeranlagen. Sie und die aktuelle Entwicklung zum Wartungsstandort für Windkraftanlagen in der Nordsee sind jedoch ein Kapitel für sich.

Ergänzung und Korrektur:

„Alle Häuser erhielten Elektrizität, fliessendes Wasser und sind an ein Fernwärmenetz vom Festland angeschlossen. Das war in den 50er Jahren in der Bundesrepublik noch keineswegs Standard.“

So steht es in der Literatur, ist aber nicht so, worauf  ein Helgoländer Leser des LernCafes hinweist, denn:

*) Helgoland hat ein eigenes Heizkraftwerk:

Die Insel wird keineswegs über eine Fernwärmeleitung vom Festland mit Wärme versorgt, sondern aus dem Heizkraftwerk im Unterland gegenüber dem Schwimmbad.

Bei 60km vom Festland würde kaum noch etwas von der hineingeschickten Wärme bei uns ankommen und es wären unterwegs Pumpen erforderlich.

Im Heizkraftwerk der Versorgungsbetriebe Helgoland wurden bis 2009 Strom, Wasser und die Fernwärme als Abfallprodukt der Stromerzeugung bereitgestellt.
Erst seit dem Anschluss an das Seekabel im Jahre 2009 stehen die Generatoren still und moderne Heizkessel erzeugen die Fernwärme für alle 650 Häuser.
Siehe auch: www.vbhelgoland.de Dies haben die Architekten sich damals auch gut ausgedacht: Die Brandlast für alle Häuser wurde an einem Ort zentral gesammelt, wo sie sowohl zur Belieferung und Lagerung von Heizöl als auch für den Brandfalls sicher aufgehoben und gut erreichbar wäre.Alle Häuser sparen dadurch außerdem den Bauraum für einen Heizöltank, Kessel, Warmwasserspeicher, etc..Stellen Sie sich nur die Unzahl der Schornsteine auf den Dächern des Unterlande und die Tanklaster vor, die sich durch die engen Straßen quetschen müssten….Mit freundlichen Grüßen,Henning Meins, Helgoland“

Fazit

Unter der Nachkriegsbebauung nimmt die Neugestaltung Helgolands eine Sonderstellung ein und sie gilt zu Recht als „blaue Mauritius“ der Architektur. Hier hatten Architekten die Gelegenheit, in einer zerbombten, leeren Wüste eine moderne Planstadt auf zu bauen, die der Umwelt, den klimatischen Gegebenheiten, den Bedürfnissen der zukünftigen Bewohner, den Forderungen der Ideenwelt der Bauhaus-Architektur wie denen der „Charta von Athen“ und der modernen Architektur und Infrastruktur gleichermaßen gerecht wird.

Helgoland hat nicht nur ein einzigartiges Hochseeklima, einzigartige Geschichte, einzigartige Natur, sondern auch eine für die deutsche Nachkriegsbebauung einzigartige Architektur.

über Helgoland

https://de.wikipedia.org/wiki/Helgoland

Literatur

Jan Lubitz, Architektur auf Helgoland, 2014
alle Fotos: eigene Aufnahmen