Nachbarschaft im weiten Land

von Hildegard Neufeld

Wie kleine Inseln lagen die landwirtschaftlichen Gehöfte meiner Kindheit im weiten Land, von hohen, stämmigen Bäumen umgeben und von Gärten und Hecken eingesäumt. Dort wuchs ich auf – in einer von Generationen geprägten Nachbarschaft, von meinem Elternhaus räumlich weit entfernt.

In der Weichselniederung

Es war das Land an der Weichsel im damaligen Freistaat Danzig, in dem ich, gemeinsam mit meinen Eltern und Geschwistern, meine Kindheit und frühen Jugendjahre verbrachte. Unsere Nachbarn wohnten nicht in einem „Haus nebenan“ oder mit uns „Tür an Tür“, wie es heute in den dicht besiedelten Orten und Städten üblich ist, sondern – durch die umliegenden und angrenzenden Felder und Wiesen getrennt – Kilometer weit entfernt.

Unsere Nachbarn

Wir hatten damals sechs Nachbarn, und alle wohnten, wie wir, inmitten ihrer Wiesen, Äcker und Felder, das Haus von blühenden Gärten und alten Schatten spendenden Bäumen umgeben, kaum durch Wege und Straßen schnellen Fußes erreichbar, aber durch viele, oft schnurgerade Gräben, die in ein Entwässerungssystem einbezogen waren, von uns getrennt. Diese Gräben verhinderten oder erschwerten eine Verbindung auf dem kürzesten Weg. Daher war man zumeist auf Pferd und Wagen angewiesen, wenn die Nachbarn aufgesucht wurden.
In meiner Kindheit haben diese Gräben eine besondere Rolle gespielt. Wollte man nicht ständig Umwege in Kauf nehmen, mussten sie überwunden werden. Nur selten gab es einen Steg, sonst waren sportliche Fähigkeiten vonnöten. Vom Weitsprung auf Vaters Arm bis zur Eigeninitiative war es ein weiter Weg, und ich war nicht sehr mutig. Deshalb habe ich mehr der Schnelligkeit meiner Beine vertraut und zumeist den sich anbietenden Umweg gewählt.

Nachbarschaftspflege

Allmonatlich versammelten sich unsere Nachbarn in einem der benachbarten Grundstücke zu einem gemeinschaftlichen Nachbarschaftsabend. Was verband sie miteinander? Waren es die gemeinsamen Wurzeln, die Verbundenheit mit ihrem, mit unserem Land, die Aufgaben und Ziele, die ähnlich wie die der Nachbarn durch die Anforderungen der Landwirtschaft vorgegeben waren?
Die Erklärung und Antwort „liegt auf der Hand“ und lautet: Es war vor allem die räumliche Nachbarschaft, die sie miteinander verband und mitunter ein Leben lang währte.
Und es waren Nachbarn, die sich gegenseitig informierten, aber auch miteinander konkurrierten, sich kritisierten, zuweilen auch Streit miteinander hatten und doch zusammen standen, einander beistanden, wenn, beispielsweise im Krankheits-, Unglücks- und Todesfalle, nachbarschaftliche Hilfe gebraucht wurde.

Nachbarschaftstreffen

Unsere Nachbarn gehörten zu unserem Leben, zum Alltag, aber auch bei den Festen und Feiern ganz selbstverständlich hinzu. Sie waren bei jedem Familienfest, den Geburtstagen der Eltern und Großeltern, zugegen, bei Hochzeitsfeiern ebenso wie bei Beerdigungen im Familienkreis.
Allmonatlich wurde wechselseitig zum Nachbarschaftsabend eingeladen. Die „große Stube“, über die jedes Bauernhaus verfügte, wurde gerüstet, die Tische gedeckt und ein einfaches Abendessen vorbereitet. Die Herren griffen bald zum Kartenspiel, zum Bier-  oder Grogglas. Die Damen plauderten, Erlebnisse, Erfahrungen und Familien- und Haushalts-Neuigkeiten oder auch Fragen und Sorgen miteinander austauschend, munter bei Handarbeit und Gebäck.
Wir Kinder haben diese Nachbarschaftsabende nie miterlebt.

Nachbarschaftliches Miteinander

Welcher Sinn lag wohl in diesen regelmäßigen Zusammenkünften der Nachbarn? Ganz gewiss boten sie den Beteiligten im täglichen Allerlei manche Abwechslung und vermittelten darüber hinaus Anregungen und Informationen. Aber der tiefere Sinn lag wohl in der Pflege einer Verbindung, die durch die Nachbarschaft selbst vorgegeben war: Ein Band der Zusammengehörigkeit in guten, wie in schlechten Zeiten.
Ich erinnere mich an einige Nächte, da meine Großmutter kam und bei uns Kindern schlief. Meine Eltern hatten die Nachtwache für einen schwer kranken oder sterbenden alten Nachbarn übernommen.
Nachbarschaftliche Hilfeleistungen erstreckten sich im Bedarfsfalle auch auf das Personal der Nachbarn, beispielsweise im Falle von Krankheit oder Geburt in der Familie. Dann wurde von den Nachbarn wechselseitig  die Versorgung, vor allem die Verpflegung der Familie übernommen. Ich erinnere mich, dass manchmal einige Kinder der bettlägerigen Mutter bei uns das Mittagessen einnahmen und dann die von meiner Mutter sorgfältig verpackte Mahlzeit für ihre Familie mit nach Hause nahmen.

Füreinander

Als der Krieg in unsere unmittelbare Heimat einbrach und hier auch zu Ende ging, rückten die Nachbarn enger zusammen. Sie öffneten ihre Häuser und Herzen und teilten das Leid und oft auch das, was ihnen noch geblieben war.
Es war ein Nachbar, der meinem Vater bei Kriegsende half, meine getötete Mutter zu begraben, sie unter dem Rotdornbaum im Garten zu betten. Und es war die Familie eines Nachbarn, der bei Kriegsende den Eroberern zum Opfer gefallen war, die bei meinem Vater Unterkunft und Schutz gefunden hat.
Unsere Nachbarschaft hat sich in allen Zeiten bewährt.

Resümee

Die Nachbarschaft meiner einstigen Heimat, die meiner Kindheit, gibt es nicht mehr. Die übrig gebliebenen, die überlebenden Nachbarn, fanden ihren Weg und ein neues Zuhause, das teils weit voneinander entfernt liegt, viel weiter als jemals zuvor. Doch „unsere Nachbarn“ sind sie immer geblieben.

Wenn mein Vater, der nun am Rhein wohnte, eine seiner seltenen Reisen unternahm, so führte ihn sein Weg stets zu seinem früheren Nachbarn, der nun in der Pfalz lebte. Und als das Leben meines Vaters zu Ende ging, war dieser Nachbar zur Stelle, um meinem Vater Lebewohl zu sagen. 

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