von Wolfgang Heumann
„Nachbar ist man nicht, Nachbar wird man“, ist ein geflügeltes Wort in den Dörfern Westfalens.
Bis man ein „richtiger“ Nachbar wird, ist ein langer Weg, der manchmal von gegenseitigem Misstrauen begleitet wird.
Voraussetzungen
Voraussetzung, Nachbar zu werden, ist der Erwerb von Haus und Hof. Ein „Mietling“ kann kein Nachbar werden. Bei den ersten Sondierungsgesprächen mit einem der Nachbarn wird zunächst die Anzahl der erforderlichen Nachbarn festgelegt. Elf Nachbarn muß man haben, damit man „good unner de Ääd kommt“, also in Ehren begraben werden kann: Einen Nächsten Nachbarn, einen Fahrnachbarn, einen, der das Kreuz trägt, sechs die den Sarg tragen, einen für die Laterne und einen für das Ansagen. Die Nachbarn wählt man einmal, sie bleiben lebenslänglich erhalten.
Die Funktionen haben sich im Lauf der Zeit gewandelt, aber noch immer ist der nächste Nachbar der Ansprechpartner und Organisator rund um alle sozialen Ereignisse.
Die Aufgaben als Nachbar
Die Aufgaben, die einem als Nachbar zuwachsen werden auch heute noch sehr ernst genommen. Der Nächste Nachbar ist der Ansprechpartner, wenn es gilt, ein Fest oder eine Beerdigung zu organisieren, aber auch, wenn Notfälle auftreten. Er organisiert und teilt ein. Der Fahrnachbar, der früher Pferd und Wagen für die „Leiche“ stellte, ist heute für Fahrten in Notfällen zuständig. Liegt ein Nachbar im Krankenhaus, so fährt er die Angehörigen dorthin. Das funktioniert auch heute noch erstaunlich gut.
Hochform
Zur Hochform läuft die Nachbarschaft auf, wenn es gilt, ein Fest zu feiern. Schon die Planung nimmt einige Abende in Anspruch. Männer und Frauen sind streng getrennt. Die Männer planen bei klarem Korn, wie man „Maien“ schlägt und wo der Kranz aufgehängt wird. Dieses „Kränsen“ ist eine feucht-fröhliche Veranstaltung am Vorabend des Festes. Die Frauen müssen die Rosen anfertigen, die später in die Kränze eingeflochten werden. Bei den Frauen wird eher Likör getrunken.
Ausbaufähig ist eine solche Nachbarschaft immer
Wenn man keine gute Ausrede parat hat, dann trifft man die Nachbarn im Schützenverein, im Gesangverein, bei den Landfrauen, im Heimatverein, beim Posaunenchor, im Kirchenchor, beim Spielmannszug und bei den „Klompendänzers“ wieder. Sagt man bei solchen Veranstaltungen zu oft ab, dann begibt man sich an den Rand dieser Gesellschaft, man wird mißtrauisch daraufhin beobachtet, ob man denn nun wirklich ein „goede buurmann“ ist. Einen Ausschluß aus einer Nachbarschaft gibt es aber ebenso wenig wie man eine Nachbarschaft kündigen kann. Man wird nur gemieden und von Informationen ausgeschlossen, und das ist auch heute noch eine peinliche und ehrenrührige Angelegenheit.
Die alten Sitten
Man könnte meinen, dass die alten Sitten durch den Zuzug von Ortsfremden langsam aufgeweicht werden. Man kann aber eher ein Zusammenrücken der „alten“ Einwohner verzeichnen. Die „Neuen“ werden nur zögernd in den alten Verbindungen akzeptiert, wichtige Posten im Dorf werden immer noch in den Vereinen und unter den Nachbarn bei einem Schnaps „geklüngelt“.
So haben die Nachbarschaften und die Vereine auch heute noch in den Dörfern eine wichtige soziale Funktion, die aus einem Dorf nicht wegzudenken ist.
Zum Schluss
Zum Schluss noch die Schilderung eines Todesfalles im Dorf.
Wenn ich als Arzt einen Tod festgestellt hatte und man bei Kaffee „de Lik goed geredet“ hatte, war die nächste Frage: “Wer ist der Nächste Nachbar?“ Der wurde gerufen und übernahm die weitere Organisation. Emil, der Schreiner, hatte auch die Särge. Es wäre keinem Einwohner eingefallen, einen anderen Bestatter zu holen. Emil wurde geholt und übernahm das Einsargen, dabei wurde wieder Kaffee getrunken und „geprotet.“ Oft wurde die Leiche noch im Haus aufgebahrt. Die Nachbarn wurden vom „Leichenbitter“ informiert und zur Beerdigung eingeladen.
War der Verstorbene Mitglied im Schützenverein, so gingen die Mitglieder der Kompanie in Uniform mit zum Grab, es wurde „Ich hatt´einen Kameraden“ gespielt und Salut geschossen. Nach der Beerdigung bekamen die Träger eine Flasche Schnaps, sie saßen bei der „Raue“ an einem gesonderten Tisch. Traditionell gab es Bienenstich, Kaffee und die „Lüttje Lage“.