von Agathe Wende
Hinter meinem an einem Spazierweg gelegenen Wohnhaus ist ein asphaltierter Hof mit Autostellplätzen, auch für die zwei Nachbarhäuser. In diesem Hof steht mein Auto, einen roten Fiat Punto. Daneben ist seit kurzem ein größeres, in Schweden gefertigtes Modell geparkt, ein hellgrüner Volvo.
Die Auto-Besitzerin
Verstaubt, die Außenspiegel voller Spinnweben, schien der Wagen in einen Dornröschenschlaf versunken zu sein. Nur der an der hinteren Stoßstange angebrachte Aufkleber des Ulmer Ruderklubs ließ Rückschlüsse auf den Besitzer zu.
Wem mochte das Auto gehören? Eines Tages löste sich das Rätsel. „Hallöchen!“. Mit einem automatisch die Tür öffnenden Schlüssel bewaffnet, ging eine große sportlich schlanke Frau auf den Volvo zu. Über klugen Augen volles graues Haar in einem Kurzhaarschnitt. Zur Hose trug die neue Nachbarin ein sorgfältig gebügeltes Hemd, in dessen Ärmelaufschlägen Manschettenknöpfe steckten. An den Füssen hatte sie ein paar robuste braune Halbschuhe von zeitlosem Zuschnitt. Beim Händeschütteln fiel mir auf, dass sie hübsche feingliedrige Hände hat, an einem Finger einen Ring mit einem Halbedelstein.
Sie stellte sich vor, hieß Barbara und erklärte, dass sie lieber mit dem Fahrrad als mit dem Auto zur Ulmer Uni fuhr, wo sie als Wissenschaftlerin in der Leukämieforschung arbeite.
Meine neue Nachbarin
Barbara wohnte schon seit einiger Zeit im Nachbarhaus. Da sie tagsüber nicht da war, hatte ich sie nie gesehen. Aber jetzt freundeten wir uns an. Ihre Wohnung mit Veranda befand sich auf dem gleichen Gartengrundstück wie meine Parterrewohnung.
Als Barbaras aktive Berufszeit beendet war, hatte sie Zeit für ihren Freundeskreis, zu dem nun auch meine Familie gehörte. Wenn die kleinen Enkel zu Besuch kamen, musste ich sie anhalten Barbara in Ruhe zu lassen, wenn sie Mittagschlaf in einer Hängematte hielt, die sie im Garten an einen Baum geknüpft hatte. Aber sobald Barbara wach war, rannten die Kinder zu ihrer Wohnung. Die große Attraktion war ein Aquarium mit exotischen Fischen.
Manchmal war Barbara hilfreich. Dann wenn ich mich als Sisyphus mit dem Computer abquälte. „Gruselig“!, rief meine Nachbarin, wenn sie auf den Bildschirm sah. Nachdem sie das Programm in Ordnung gebracht hatte, saugte sie meine Texte mit einem Stick ab, damit sie nicht verloren gingen.
Barbara besitzt eine hochwertige Fotoausrüstung. Ihre Fotos stellen die Dokumentation des vorbeiziehenden Lebens dar, das sich mit Kindern und Enkeln immer weiterentwickelt.
Unsere Familie und Barbara
Barbara liebte das Wasser. Sie ging nicht nur an die Donau zum Rudern, sondern, so wie ich auch, gern schwimmen. So unternahmen wir im Sommer häufig Ausflüge an die Ulmer Badeseen, wo sie den Enkeln Unterricht im Kopfsprung gab.
Da Barbara aus einer Kleinfamilie kommt, nimmt sie gerne an Festen in größerem Kreis teil. Am Weihnachtsabend kam sie oft in meine Wohnung, wo sich die Familie versammelt hatte. Die Kirchenglocken läuteten in der Dunkelheit. Ich stellte mir vor, wie die Besucher des evangelischen Gottesdienstes in ihren Wintermäntel aus der Kirche kamen, noch eine Weile vor der Kirche standen, um sich die Hände zu reichen. Dann zündete ich die roten Kerzen an den grünen Tannenzweigen an. Unter dem Baum lagen die glänzend verpackten Geschenke für die Kinder. Die waren eine laute Gesellschaft, glücklich mit dem Auspacken der Gaben beschäftigt.
Auf der Kommode häuften sich die Geschenke für mich, die ich später auspacken wollte, da die Kinder mit ihrer Festtagsfreude im Mittelpunkt standen.
Erst am nächsten Morgen nach dem Frühstück nahm ich die liebevoll für mich ausgewählten Geschenke, meist Bücher, in Augenschein.
Barbara hatte für mich ein schmales Buch selbst angefertigt. Aus dem Computer hatte sie Texte geholt, daneben Aufnahmen aus ihrem Archiv gestellt. Für Texte, für die keine persönlichen Aufnahmen vorhanden waren, holte sie zur Illustration Bilder aus dem Internet. Auf der letzten Seite ein Bild von sich selbst.
Ich kann Barbara gar nicht genug dafür danken.