Von Ute Lenke
Was verbirgt sich hinter diesen drei Begriffen, worin unterscheiden sie sich und: brauchen wir die überhaupt in unserer schnelllebigen, modernen Zeit oder sind das „alte Zöpfe“?
Sitten
„Was ist das nun wieder für eine Unsitte?“ Wer hätte diesen Seufzer oder Tadel nicht schon gehört oder selber ausgesprochen? Und der oder die so Abgekanzelte weiß, was gemeint ist und ist zerknirscht: man hat gegen die „guten Sitten“ verstoßen, sowas „tut man nicht“.
Doch was ist das, was „man“ nicht tut oder vielmehr: tun soll? Diese Frage ist wohl schon so alt wie die Menschheit.
Funktion von Sitten
Sitten, meist als „gute“ Sitten gemeint und in ihrer negativen Bedeutung „Unsitten“, haben eine wichtige Funktion im Zusammenleben der Menschen. Sie garantieren, dass die Mitglieder eines Stammes, einer Nation, eines Volkes, einer Glaubensgemeinschaft oder ähnlichem sich zu jeder Zeit so verhalten, wie es in diesen Gemeinschaften „üblich“ ist – üblich aus Tradition oder aus Gesinnung. Sitten sind zwar nicht durch Gesetz geregelt und eigentlich nicht verpflichtend. Aber dennoch: wer gegen die „guten Sitten“ verstößt erregt „Anstoß“ und hat die öffentliche Meinung gegen sich, er verliert die Sympathien und die Solidarität seiner Gruppe, was schlimmstenfalls zum Ausstoß aus der Gemeinschaft führen kann. Wer gegen die „guten Sitten verstößt“ handelt „sittenwidrig“ und kann unter Umständen sogar strafrechtlich belangt werden (§§ 138, 817, 826 BGB).
Wandel
Sitten ändern sich, wie sich Moden und Wertvorstellungen innerhalb von Gemeinschaft und Gesellschaft verändern. Ob „früher alles besser“ war, also bessere Sitten herrschten, wie man oft hört, sei dahingestellt. Von Mädchen und Frauen wurde früher – in manchen Volksgemeinschaften auch heute noch – besonders sittsames Verhalten erwartet: Sex vor der Ehe war tabu, Berufstätigkeit und eigenes Bankkonto ebenso. Tischsitten sind ein weiteres, weites Feld: der Gebrauch von Messer und Gabel, das Zurückhalten der mit der Nahrungsaufnahme oft verbundenen Geräusche – das alles ist historisch gesehen verhältnismäßig jung. Die „guten Sitten“ und den „guten Ton“ zu beherrschen ist Gegenstand vieler Ratgeber in Büchern und sogar im Internet.
Fremde Sitten
Das Sprichwort „Andere Länder, andere Sitten“ verliert im Zeitalter der Globalisierung und der Sitte, seinen Urlaub möglichst fern von der Heimat zu bringen, zwar an Bedeutung, aber nicht an Geltung: jeder Reiseführer beschreibt auf mehreren Seiten die Landessitten und Reisende tun gut daran, sich an sie zu halten.
Sitten als Gegenstand in Wissenschaft und Kunst
„Sitte“ ist Thema von Philosophen, Theologen, Psychologen, Soziologen, Juristen, Lehrern, Eltern auch für Künstler und einer Sonderabteilung der Polizei: der Sittenpolizei. Mit Brauchtum und Festen befassen sich dagegen nur wenige Wissenschaftler. Auch Künstler haben sich mit Sitten befasst. In der Biedermeierzeit gab es die sogenannte Genremalerei. In den Bildern wurden gern Alltagsszenen mit moralischem Hintergrund dargestellt. Carl Spitzweg malte derartige alltägliche Begebenheiten, allerdings oft augenzwinkernd. Wie man an der Abbildung sieht, hatten auch Familien ihre eigenen Sitten; manche sind heute fast vergessen, wie der Sonntagsspaziergang im Sonntagsstaat.
Zur Deutung siehe auch URL am Ende des Artikels
Bräuche und Brauchtum
Bräuche sind traditionell entstandene, regelmäßig oder bei besonderen Lebenssituationen wiederkehrende, mehr oder weniger ritualisierte Formen des Verhaltens.
Funktion
Bräuche oder Brauchtum, wie die Mehrzahl von Brauch genannt wird, haben eine ähnliche Funktion wie Sitten; auch sie regeln das gesellschaftliche Miteinander, wirken gemeinschaftsbildend; sie beziehen sich aber weniger auf das Leben des Einzelnen und sind weniger verpflichtend.
Bräuche finden wir in allen Lebensbereichen, allen Kulturen, in aller Welt, zu allen Zeiten.
Riten
Zu den Bräuchen gehören Riten bei Geburt und Tod, bei Hochzeit, Taufe, Kommunion, Konfirmation, Jugendweihe. Riten sind Bräuche religiösen Ursprungs, sie sind zeremoniell und stärker verpflichtend für den Einzelnen.
Brauchtum zur Geburt
Zu den gleichen Ereignissen finden wir jedoch auch Bräuche: sie haben einen mehr weltlichen Charakter. In manchen Gegenden ist es Brauch, frischgebackenen Eltern einen Kinderwagen auf das Dach zu stellen oder eine Wäscheleine mit Babywäsche vor die Haustür zu hängen, einen Klapperstorch in den Garten zu stellen. Sind die Kinder etwas älter und sollen den Ernst des Lebens kennenlernen, versüßt man ihnen den Schuleintritt mit einer Schultüte, mancherorts auch Zuckertüte genannt
Berufsbräuche
Der Übergang ins Berufsleben kennt eigene Bräuche, ob für Lehrlinge oder Studenten und viele Berufe haben eigene Bräuche wie Berufskleidung oder Schmuck. Eine eigene Berufskleidung haben zum Beispiel Schornsteinfeger, und einen zu sehen soll Glück bringen. Der Brauch, zum neuen Jahr mit Postkarten, auf denen Schornsteinfeger abgebildet sind, Glück und Segen zu wünschen geht auf Zeiten zurück, in denen nicht jeder ein beheizbares Haus besaß; wo jedoch ein Schornsteinfeger auftauchte, bei dem „rauchte der Schornstein“ – wie man ja auch heute noch von reichen Leuten sagt. Der Neujahrsbrauch entstand, weil früher am Neujahrsmorgen der Schornsteinfegergeselle die Jahresgebühr einsammelte, verbunden mit allerlei Glück-und Segenswünschen (gern auch Geschenken) für beide Seiten. So wurde der Schornsteinfeger zur Symbolfigur für den Glücksbringer.
Bräuche zu Tod und Begräbnis
Zur Begleitung beim letzten Gang schließlich bat einst der „Leichenbitter“ (mit der angemessenen „Leichenbittermiene“). Diesen Brauch haben in unserer Zeit die Bestattungsunternehmen übernommen; in ländlichen Gegenden ist es aber noch immer üblich, dass Nachbarn persönlich zur Teilnahme am Begräbnis und anschließendem „Leichenschmaus“ bitten.
Neben dem Sinn, dem Verstorbenen eine letzte Ehre zu erweisen, ihn gewissermaßen ein Stück auf seiner letzten Reise zu begleiten, hat dieser Brauch vor allem den Zweck, den Hinterbliebenen zu zeigen, dass das Leben weitergeht und der Tod nur eine Station des irdischen Lebens darstellt. Die bei solchen Gelegenheiten oft aufkommende Heiterkeit ist nicht pietätlos: man erinnert sich an erfreuliche gemeinsame Erlebnisse, und das Lachen über die Anekdoten hilft, Emotionen abzubauen, Abstand zu gewinnen und trotz der Trauer wieder eine gewisse Alltagsnormalität zu erreichen. Dass so ein Leichenschmaus gelegentlich auch ausuferte und vor allem mit erheblichen Kosten verbunden war, was teilweise zu Verboten führte, soll nicht verschwiegen werden.
Feste und Feiern
sind ebenso wie Sitten und Bräuche eng mit der Alltags- und Volkskultur verbunden. Aber wenn man Feste `feier´t, worin besteht dann der Unterschied zwischen Fest und Feier?
Fest
vom lateinischen festum= Festtag bezeichnet „soziale Veranstaltungen, die sich mit der Tendenz zum Exzessivem, Schrankenlosen, Ausgelassenen und Rauschhaften von der alltäglichen Lebenswelt anheben(…). Feste bringen Abwechslung in das das durch Routine, Arbeit, Zwänge, Nöte, Sorgen gekennzeichnete Alltagsleben, das dadurch „rituell überhöht“ wird.
Feiern und Feiertage
Als Feiern und Feiertagen bezeichnet man regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen, die eine Religionsgemeinschaft, ein Volk, eine Nation gemeinsam begehen; sie sind gesetzlich geregelt, arbeitsfrei und die Teilnahme ist verpflichtend, heute weniger als früher, aber meist will man sich ihnen gar nicht entziehen. Feiern sind gekennzeichnet durch rituelle Abläufe, Ernst, Würde bis hin zum Pathos, während Feste meist Vergnügen bedeuten und eher privater Natur sind.
Gemeinsamkeiten
Festen und Feiern gemeinsam ist dass sie wie Sitten und Bräuche der Pflege der Gemeinschaft dienen und Zeitabläufe periodisieren. Das hat den Vorteil, das Leben und den Jahresablauf in übersichtliche Zeitrahmen einzuteilen und den rauen Alltag erträglicher zu machen: man feiert Karneval und freut sich dabei schon auf Ostern, auf den Maifeiertag, Pfingsten, Urlaub, Geburtstag, Weihnachten.
Gesetzliche Regelung
Feiertage wurden zunächst kirchlich, später auch national „verordnet“. Bis auf den Nationalfeiertag am 3. Oktober werden Feiertage in Deutschland von den Bundesländern festgelegt.
Nationale und politische Feiertage nehmen eine Sonderstellung ein: sie werden oft zur Machtdemonstration und Herrschaftssicherung benutzt. Man denke nur an die Maifeiern in der ehemaligen DDR.
Wandel
Die einstigen kirchlichen Feiertage, aber auch viele Bräuche verlieren ihren sakralen Charakter zunehmend und werden vom Marketing und Konsum beherrscht. Weihnachten ist ein Beispiel: man geht vielleicht noch in die Kirche, aber wichtiger sind meist die Geschenke und gutes Essen. Es gibt auch eine Reihe neuer Feste, die zum Teil auf frühere Kirchenfeiertage zurückgehen, deren ursprüngliche Bedeutung heute vergessen oder unverstanden ist: Kirmes, Halloween, Volks-, Vereins-, Nachbarschafts-, Straßenfeste, Stadtteilfeste und viele mehr, von denen in dieser Lerncafe-Ausgabe noch berichtet wird.
Zum Schluss
Um die zu Beginn gestellte Frage zu beantworten: Ja – wir brauchen Sitten, Bräuche und Feste. Heute genauso wie zu früheren Zeiten, auch wenn sie sich im Wandel der Zeiten verändert haben und weiter ändern werden: sie ermöglichen das menschliche Zusammenleben machen und den Alltag erträglich. Ohne sie wäre das Leben ziemlich langweilig, vielleicht sogar gefährlich. Wie wichtig Brauchtum für die Kultur der Völker ist, zeigen Maßnahmen der UNESCO, einige Bräuche zum Kulturerbe der Menschheit zu erklären, wie zum Beispiel den Fado, einen portugiesischen Volkstanz oder Trachten und aussterbende Sprachen.
Quellen
Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, 2007
Becker-Huberti, Manfred: Lexikon der Bräuche und Feste, 2007
Bild 3: Bundesarchiv, Bild 183-1987-0501-019 /
Zimmermann, Peter / CC-BY-SA 3.0 [CC
BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)].
Links
Carl Spitzwegs „Sonntagsspaziergang“
UNESCO: Schutz für immaterielles Kulturerbe