Warum wir lesen.

von Ute Lenke

Ein Streifzug durch das Land des Lesens und der Leser.

Wer oder was ist ein Leser?

Siegfried Lenz schuf in seinen masurischen Geschichten „So zärtlich war Suleyken“ mit der Figur des Hamilkar Schaß, dem „Leseteufel“, ein Denkmal für alle Leser. Zugleich  beschreibt er  in seiner humoristischen Art die Wirkung, die passionierte Leser mitunter auf Nichtleser ausüben: Hamilkar Schaß, ein „Großväterchen von vielleicht  71 Jahren“ hat sich selbst das Lesen beigebracht und liest, wo er geht und steht und alles, was er vor Augen bekommt. Eines Tages droht dem Dorf Gefahr durch einen Überfall des polnischen Generals Wawrila, alles ist in heller Aufregung und bereitet sich auf die Verteidigung vor. Hamilkar Schaß liest ungerührt weiter, auch noch, als ihm der General die Flinte an den Hals setzt und ihn „wegzupusten“ droht. Nur noch „dies Kapitelchen zu Ende, nur noch eineinhalb  Seiten“ möchte er lesen, worauf den General das Entsetzen vor diesem vom (Lese)Teufel besessenen Kerl packt  und er mit seinen Truppen zurück in die Sümpfe flieht. (Siegried Lenz, So zärtlich war Suleyken) 

Erkennen Sie sich wieder?

Haben Sie als Kind oder Jugendlicher heimlich gelesen? Oder gehören Sie zu denen, die nur gezwungenermaßen für die Schule oder den Beruf gelesen haben? Warum ist Lesen für die Einen Leidenschaft, für Andere Sucht und Teufelswerk, oder gar notwendiges Übel? Warum werden seit Erfindung der Buchdruckkunst immer mehr Bücher gedruckt (auch heute noch, trotz Internet und e-books) und gleichzeitig noch immer Bücher verboten und sogar verbrannt?
Die Soziologen haben darauf eine Antwort: Lesen ist eine „Kulturtechnik“ (Bourdieu) oder einfacher gesagt: Wer lesen kann, hat Zugang zu Bildung und besseren Lebenschancen. Mehr zu wissen als andere, gar zu viel zu wissen, kann aber auch Neid und Misstrauen wecken, und so hat es in der Geschichte des Lesens immer wieder Zeiten gegeben, zu denen Lesen eingeschränkt  war (Frauen und Dienstboten durften nicht lesen, damit ihr Gehirn nicht überreizt wurde) oder bestimmte Bücher verboten waren.

Mit Hamilkar Schaß

haben wir bereits einen  Lesertypen  kennengelernt. In der Wissenschaft unterscheidet man noch weitere:
Da gibt es den funktional-pragmatischen Leser, der vor allem Informationen und Orientierung sucht: Er liest Fachliteratur, Reisebeschreibungen, Zeitungen, Beipackzettel seiner Medikamente.
Es gibt den rational-intellektuellen Leser: Auch er liest informativ, sucht darüber hinaus aber nach Deutungen und Sinn.
Bei diesen beiden Typen spricht man auch vom aktiven Leser, das heißt, er sucht Informationen und setzt sich mit dem Gelesenen auseinander. Seine Aufmerksamkeit wird auf etwas „hingelenkt“.
Dann gibt es den emotional-phantastischen Leser: Er liest um den Begrenzungen seines Daseins zu entfliehen, vorzugsweise Serien, Fantasygeschichten, Romane. Er sucht vor allem „Ablenkung“ von schwierigen Alltagssituationen oder psychischer Belastung. In dieser Gruppe findet man häufig Kinder und Jugendliche, die ihren  Lesestoff regelrecht „verschlingen“ (was die Erwachsenen dann oft gar nicht so gern sehen).

Der literarische Leser

schließlich liest aus allen genannten Gründen: informativ, sinnsuchend und  -deutend, zur Unterhaltung und kann zugleich seinem Alltag und seiner Welt entfliehen. Psychologisch gesprochen befindet er sich beim Lesen im Zustand des „Flow“.
Für alle jedoch gilt: Sie und ich genießen die Freiheit und die Lust am Lesen uneingeschränkt und unbeeinflusst von – im Übrigen umstrittener – wissenschaftlicher Kategorisierung und von Vorurteilen der Nicht-Leser.  Und so soll von nun an nur noch vom passionierten Leser die Rede sein.

Wie wird man Leser?

Im Laufe eines Lebens ändern sich viele Gewohnheiten, so auch die Lesegewohnheiten. Einigkeit herrscht darüber, dass man zum Leser bereits im Kindergarten gemacht wird und dass das Elternhaus eine entscheidende Rolle spielt. Das Vorlesen, und zwar das für Erwachsene so ermüdende Vorlesen der immer gleichen Geschichte, bei der auch nicht ein einziges Wort verändert werden darf, gibt kleineren  Kindern Sicherheit und Geborgenheit und ist  Ansporn für die ersten eigenen Leseabenteuer. Später entscheiden Schule, Elternhaus, der Zugang zu Büchern zu Hause oder über öffentliche Bibliotheken, die Wertschätzung des Lesens darüber, ob aus dem Individuum ein lebenslang begeisterter, ein sporadisch interessierter oder ein Nicht-Leser wird.

Jeder, der Lesen kann,

auch der Nicht-Leser, wird sich im Laufe seines Lebens in dem einen oder anderen der  oben skizzierten Lesertypen wiedererkennen, allerdings in unterschiedlicher Ausprägung. Lesen ist Mediennutzung. Auch wer fernsieht, liest: das Programmheft, An- und Abspann der Sendungen, die Fußballergebnisse; wer im Internet surft, liest. Aber er ist nicht der Leser, von dem hier die Rede ist, nur der Vollständigkeit halber sollte er erwähnt werden. Auf die Rolle des Fernsehens und seinen angeblich unheilvollen Einfluss auf die Lesekultur, gehe ich an dieser Stelle nicht ein: Passionierte Leser werden sich durch das Fernsehen nicht von ihrer Leidenschaft abbringen lassen.

Wann liest der Leser?

Lesen kostet Zeit und die Auswahl fällt schwer. Schon, wer nur täglich seine Zeitung liest, kann damit Stunden verbringen. Für ganze Bücher fehlt  oft einfach die Ruhe und die Zeit.
Viele Menschen lesen nur im Urlaub –  Reisezeit ist Lesezeit. Aber  Urlaubslektüre hat eine eigene Qualität: Wer Proust einpackt und im Liegestuhl „endlich ungestört und mit Muße“ lesen will, wird vermutlich bald resigniert aufgeben und sich einen Krimi oder Rosamunde Pilcher besorgen.
Auch die technische Entwicklung hat für veränderte Lesegewohnheiten gesorgt: einen E-Bookreader kann man mit Hunderten verschiedenster Bücher beladen und hat für jede Situation und jeden Geschmack meist das Passende dabei. Das ist besonders für Urlaub und Freizeit, im Wartezimmer oder auf Reisen eine Erleichterung. Inzwischen sind die Reader auch so ausgereift, dass sie am Strand bei Sonnenlicht oder nachts im Hotelbett ohne den Partner zu stören gelesen werden können. Nur Sand, Stürze und Sonnenöl verträgt ein gedrucktes Buch besser.

Auch der Ruhestand

ist eine gute Zeit zum Lesen: Alle Bücher, die passionierte Leser im Laufe ihres Lebens angeschafft haben, warten darauf, gelesen zu werden; Lieblingsbücher kann man endlich zum x-ten Male wieder lesen und jedes Mal Neues entdecken; keiner hebt den Zeigefinger, wenn man Comics liest, und wer Lust hat und es kann, kann auch  Cäsar im Original lesen, ohne Zwang von Lehrern und ohne von Mitschülern als Streber verschrien zu werden.
Die Lesegewohnheiten ändern sich  im Laufe des Lebens, selbst für den passionierten Leser: Musste er in der Schule Goethe oder Lyrik lesen, tut er es im fortgeschrittenen Alter freiwillig und versteht und  genießt es sogar.
Lesegewohnheiten im Alter sind noch nicht erforscht, es würde sich jedoch lohnen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man mehr und anders (und natürlich  Anderes) liest und sich auch die Interessengebiete verlagern.

Darüber hinaus

entsteht oft erst im Alter eine neue Lesergruppe: die späten und unerwarteten Leser, auf die S. Limmroth-Kranz in ihrer Dissertation „Lesen im Lebenslauf“  hinweist (Kap.7). Diese Leser hatten während ihrer Berufstätigkeit wenig freie Zeit zum Lesen, haben auch nicht die „klassische“ Lesesozialisation in ihrer Jugend erfahren und suchen zum Teil lebenslang nach für sich geeigneten Büchern. Gerade diese Gruppe legt dann besonderen Wert auf die Lesesozialisation ihrer Kinder und Enkelkinder.  Ein weites Feld für Buchhändler und Autoren.
Doch dem Genuss sind Grenzen gesetzt: wenn Augenlicht und Kräfte nachlassen, man seine gewohnte Umgebung verlassen muss, ist die schönste Bibliothek nutzlos. Dann können Hörbücher die Lücke füllen, aber das ist ein anderes Kapitel.

Macht Lesen einsam?

(Bild: public domain)

Wer einen Blick in die Geschichte des Lesens wirft, weiß, dass man früher laut gelesen hat;  es konnte auch nicht jeder lesen, und wer es konnte, las anderen vor. Noch in der Familie meiner Mutter war Vorlesen üblich: Der Vater las vor, Mutter und Töchter saßen handarbeitend dabei; selber lesen durfte meine Mutter nicht, dass war Müßiggang und der ist bekanntlich aller Laster Anfang (sie las später dafür umso leidenschaftlicher).
Auf  Abbildungen sieht man dagegen Leser oft allein, versunken in ihre Lektüre und ähnlich wie Hamilkar Schaß ein bisschen lächerlich gemacht. Man denke nur an Spitzwegs Bücherwurm.

Der bevorzugte Ort zum Lesen

ist das Bett. Lesen und Lesevergnügen hängen eng mit dem körperlichen Wohlbefinden zusammen. Alberto Manguel schreibt in „Eine Geschichte des Lesens: …in all den vielen Betten gewährte mir die Kombination von Bett und Buch ein Zuhause, in das ich immer zurückkehren konnte, Nacht für Nacht, unter welchem Himmel auch immer“ (S. 215). Das Lesen im Bett „bietet mehr als bloßen Zeitvertreib, nämlich eine bestimmte Form von Einsamkeit. Man zieht sich auf sich selbst zurück, lässt den Körper ruhen, macht sich unerreichbar und unsichtbar für die Welt“ (S.219).
Wer liest, ist also nicht einsam, höchstens allein mit seinem Buch und dem Helden darin. Nur für seine Mitmenschen ist er verloren, nicht ansprechbar solange er liest. Manche Mit-Menschen mögen das nicht, darum lesen wir passionierten Leser oft heimlich, an versteckten Orten, im Bett oder wo immer wir mit unserer Lektüre allein sein können. Oder wie Hamilkar Schaß auf dem Dachboden.

Zu guter Letzt

Der Bücherwurm
Der Bücherwurm ist zu Besuch
In dieser Welt nur durch das Buch
Doch ist ihm nicht der Inhalt wichtig:
Er prüft´s Papier, ob´s für ihn richtig
und nicht zu schwer verdaulich sei.

Sagt, ist dieser Wurm nicht weise?
Er liest auf seiner langen Reise,
was leicht und gut bekömmlich ist.
Der brave Wurm genießt und schweigt
Und nur seine Fraßspur zeigt,
womit er sich gern abgegeben –
Tja, so ist das Leben – eben!
(Ute Lenke, 1998)

Zum Weiterlesen

Siegfried Lenz, So zärtlich war Suleyken,TB 1960
Alberto Manguel, Eine Geschichte des Lesens, Fischer TB 2012

Susanne Limmroth-Kranz, Lesen im Lebenslauf. Lesesozialisation und Leseverhalten 1930 bis 1996 im Spiegel lebensgeschichtlicher Erinnerungen.

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