von Eleonore Zorn
Ich bin inzwischen über Siebzig und sehr froh, dass ich mich auf kein Bewerbungsgespräch mehr vorbereiten muss. Vom Zusammenstellen einer Bewerbungsmappe ganz zu schweigen. Welch eine nervliche Anspannung das sein kann.
Mein Mut vor zwanzig Jahren
Und doch habe ich mir genau diesen Stress freiwillig angetan, als ich knapp über Fünfzig war. Ich frage mich noch heute, wo ich diesen Mut und diese Naivität damals her geholt habe.
Ich fragte mich nach meinem Fünfzigsten Geburtstag immer häufiger: „…und was nun?“ Mein Sohn war fast mit dem Studium fertig, der Garten war gepflegt und gut in Schuss, mein Mann ging seinen beruflichen Dingen nach. Da war doch noch etwas, ich hatte doch noch andere Fähigkeiten, das ging mir immer häufiger durch den Kopf. Ich las die Tageszeitung intensiver und ich las eine Anzeige in der Tageszeitung, die mich ansprach. In meinem Wohnort wurde ein Mitarbeiter im Fotosatz einer Stadtteilzeitung gesucht. Was Fotosatz ist, wusste ich nicht. Dass es sich bei einer Zeitung um eine Arbeit mit Buchstaben handelt, das genügte mir, um dort anzurufen. Tapfer sagte ich, dass ich sehr lange „Nur-Hausfrau“ war und außerdem jenseits der Fünfzig.
Ich ließ mir die Anforderungen der Anzeigenmontage erklären und fragte, ob ich denn in meinem Alter ….?
Ich trau mich
„Trauen Sie sich die Arbeit zu“, fragte mich der Herr am anderen Ende der Leitung. Ich traute mir zu, lernfähig zu sein.
Das genügte, um am nächsten Tag einen Vorstellungstermin zu bekommen. In Hektik stellte ich eine Mappe zusammen, schrieb eine Bewerbung, einen Lebenslauf und machte mir Gedanken über ein jugendlich wirkendes Foto.
Meinem ahnungslosen Mann und meinem verwöhnten Sohn verriet ich nichts von meinen Absichten. Pünktlich um 9 Uhr kam ich nett und adrett gekleidet bei dem Zeitungsverlag an. So machte man das früher, nett, adrett und pünktlich ging man zum Bewerbungsgespräch. In diesem Punkt lernte ich dann bald auch dazu.
Ein sehr jugendlich wirkender Mann sprang gerade von seinem Rennrad und lehnte es an die Hausmauer. Er stellte sich als Leiter des Fotosatzes vor. An meinen Bewerbungsunterlagen zeigte er zu meiner Verwunderung gar kein Interesse. Stattdessen führte er mich herum und erklärte mir die einzelnen Stationen der –damaligen – Zeitungsherstellung, vor allem der Anzeigen-Montage.
Das Arbeitsmaterial
Die vielen Geräte, die kaum Platz frei ließen im Raum und auf den Schreibtischen, beeindruckten mich. Es roch nach heißem Wachs, nach Salmiak, nach den Ausdünstungen von heiß gelaufenen Elektrogeräten.
Überall lagen große Packen von Zeitungen in unterschiedlichen Stadien der Herstellung. Besonders viele alte Zeitungen, die sich aber in der Druckvorstufe befanden, denn die Anzeigen und die Textspalten waren mit Heißwachs in einzelnen Fragmenten auf Linienpapier geklebt, was eine einzelne Ausgabe einer Zeitung zu einem recht dicken Bündel anwachsen ließ. Und diese Bündel mussten immer wieder auf die Schreibtische gehoben werden, um einzelne alte Anzeigen zwecks Wiederverwendung abzunehmen und in die neue Ausgabe zu kleben. Großgeräte wie eine Offset-Kamera in einer Dunkelkammer, eine Entwicklermaschine, Schneidetische, Leuchttische für das Layout, Heißwachsgeräte, Computer und andere Gegenstände beeindruckten mich so, dass ich dachte: „Ich muss doch ein bisschen verrückt sein, mich auf solch ein Abenteuer einzulassen.“
Mädchen für alles
Ich ahnte auch schon, dass das keine bequemen Arbeitsbedingungen sein konnten, denn die Räume waren viel zu klein für all das Material. Heute waren gar keine Mitarbeiter da, so dass der Eindruck sogar noch etwas mehr Großzügigkeit vorspiegelte. Die aktuellen Ausgaben der sieben Zeitungen waren gerade fertig und in der Druckerei – deshalb hatten die Mitarbeiter heute frei.
Nachdem ich mir noch einmal die konkrete Arbeit „Mädchen-für-alles“ erklären ließ, die ich leisten sollte, war mir klar, dass hier jeder alles können muss bzw. bereit sein muss, überall einzuspringen, wenn Not am Mann war. Außer der Arbeit am PC traute ich mir alles zu, selbstverständlich nach einer Einarbeitungszeit. Per Handschlag wurde ich als Teilzeitmitarbeiterin in der Fotosatzabteilung eingestellt. „Können Sie morgen früh gleich anfangen?“, fragte der Leiter der Fotosatzabteilung. Tapfer sagte ich: „Ja, selbstverständlich!“
Die Familie
Wie sag‘ ich‘s meinem Kinde? Wie meinem treusorgenden Ehemann, das war die Frage, die mich auf dem Heimweg beschäftigte.
Mein Mann fiel aus allen Wolken, sah sein pünktliches Mittagessen in Gefahr. Mein Sohn grinste und fragte ungläubig: „Ja kannst Du denn so was?“ Spätestens jetzt wusste ich, dass es Zeit war, dies zu beweisen. Immerhin hatte ich fast zwei Jahrzehnte als Verwaltungsangestellte bei der Universität gearbeitet, bevor ich geheiratet hatte.
Aber mein Sohn kannte mich fast nur als Mutter, Köchin, Hausfrau, Chauffeur und Krankenpflegerin.
Ich hatte nicht nur arbeitsfähige Hände, sondern auch einen Kopf mit einem Verstand darin. Wie hatte ich das nur so lange vergessen können?
Nicht nur der Anfang war schwer
Der Job erwies sich als sehr anstrengende und ermüdende Knochenarbeit. Gleichzeitig war hohe Konzentration und auch Schnelligkeit erforderlich unter sehr unangenehmen Arbeitsbedingungen.
Mehrere Mitarbeiter saßen in großer räumlicher Enge um einen Schreibtisch herum, genau genommen mussten einige immer stehend arbeiten, denn so viele Stühle konnte man gar nicht an einen Schreibtisch stellen.
Immer herrschte Zeitdruck und Nervosität und das führte natürlich auch zu Missverständnissen. Regelmäßig hatte das Team das Gefühl, es nicht bis zum Drucklegungstermin zu schaffen. Und doch war die Zeitung immer rechtzeitig fertig, um am vorgesehenen Tag ausgeliefert zu werden.
Die Arbeitsräume waren dann ein einziges Chaos, der Fußboden klebrig vom Heißwachs, überall Zettelchen und Zipfelchen von den Anzeigen-Klischees, die aus den großen Fotosatz-Bogen ausgeschnitten worden waren.
Einige Male war ich nahe daran aufzugeben. Vor allem, weil die Arbeit körperlich schwer war. Aber die Zusammenarbeit mit den Kollegen, die meist altersmäßig meine Kinder hätten sein können, machte mir viel Freude.
Der Computer übernimmt
Allmählich änderten sich die Arbeitsbedingungen, denn die Computer wurden immer besser. Die Texte kamen online an, später sogar die Fotos und die Anzeigen-Logos. Ganze Zeitungsseiten kamen wie lange weiße Handtücher aus der automatischen Entwicklermaschine. Wie mit Zauberhand war der Text vorher direkt vom PC auf die Bogen in der Maschine übertragen worden. So wurde ich nun Zeuge des Überganges von der Fotosatz-Montage zum Desktop-Publishing.
Die jungen Mitarbeiter wurden umgeschult, ich arbeitete jetzt hauptsächlich als Korrekturleserin. Es gab nun viel Platz in den Räumen des Fotosatzes.
Allmählich wurde auch die Korrektur direkt am PC ausgeführt. Obwohl ich für das Korrektur-Lesen ein kleines Apple-Gerät bekam, das mir auch zur Textbearbeitung bzw. für das Schreiben von Texten diente, fand ich das Korrektur-Lesen am Monitor sehr anstrengend, denn die Bildschirme waren damals sehr klein.
Mein neues Arbeitsfeld
Ich fing also an, mich abends mit Block und Kamera als freie Mitarbeiterin zu betätigen und ging zu Terminen beim Schultheater, zu Sitzungen der Vereine, des Gemeinderates, zu Ausstellungs-Eröffnungen und zu Lesungen. Das Schreiben machte mir sehr viel Freude und ich gewöhnte mich allmählich auch an die Arbeit am PC, denn natürlich mussten inzwischen die Texte online von zu Hause aus an den Verlag weitergeleitet werden. Nach wie vor war es dann eine Freude, die gedruckte neue Ausgabe der Zeitung aufzuschlagen. Jetzt interessierten mich natürlich in erster Linie meine eigenen Artikel. Ich fand leider immer einen Fehler, trotz vorheriger Korrektur und sorgsamer Arbeit.
Mein Fazit
Nie habe ich es bereut, mich so spontan auf eine Stellenanzeige beworben zu haben, bei der ich nicht einmal wusste, um was für eine Arbeit es sich handelt. Das Vertrauen, das der Fotosatzleiter in meine Lernfähigkeit gesetzt hatte, gab mir damals den Mut, etwas ganz Neues zu wagen. Auf diese Weise habe ich den Übergang von der „Handarbeit“ des Fotosatzes zur virtuellen Herstellung einer Zeitung hautnah miterlebt. Leicht war es nicht immer, aber es war der Mühe wert.
Den heutigen Bewerbern würde ich wünschen, dass auch sie die Chance erhalten, ihre Fähigkeiten zu beweisen durch „Learning by doing“ und nicht nur durch eine perfekte Bewerbungsmappe. Ein schnurgerader Bildungsweg ist nicht immer eine Garantie für berufliche Kompetenz. Wissbegierde, Neugierde, Mut und Verlässlichkeit können so manches fehlende oder ungenügende Zeugnis ersetzen.