von Sigrid Peicke
Mein Urgroßvater starb mit 93 Jahren, einen Monat vor meiner Geburt, am 14. Februar 1939. Er wäre sicherlich enttäuscht gewesen, dass ich kein Junge war. Denn zu dieser Zeit besaß meine Familie ein Hofgut in Groß-Ottersleben und ein Nachfolger wäre sehr erwünscht gewesen.
Der Lauf der Dinge
Es ist das besondere Verdienst meines Urgroßvaters, dass er die Familiengeschichte durch jahrelange Recherchen in Archiven in seiner 1902 erschienenen Chronik bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgte. Dabei hatte er so viel Material gesammelt, dass er auch noch eine Chronik zur Geschichte der Dörfer Groß-Ottersleben, Klein-Ottersleben und Beneckenbeck schrieb.
Mit dem Ende des Krieges und unter der sowjetischen Besatzungszone wurden meine Eltern entschädigungslos enteignet. Wir mussten unseren Heimatort Groß-Ottersleben bei Magdeburg, damals das größte Dorf Deutschlands, verlassen und durften uns nicht im Umkreis von 50 km niederlassen
Mein Leben
Ich wuchs in der DDR auf und machte im Jahr 1957 mein Abitur. Danach flüchtete ich allein, ohne die Eltern und meine jüngere Schwester, in die Bundesrepublik.
Meine Eltern hatten in der DDR nie über die frühere Zeit gesprochen, und so wusste ich nichts über meine Vorfahren.
Erst mit der Wende und der Wiedervereinigung 1989/90 begann ich mich für die Familiengeschichte und die Ereignisse nach 1945 zu interessieren. Leider waren meine Mutter bereits 1986 und mein Vater 1988 verstorben, und ich konnte sie nicht mehr befragen. Vorher hatte mich das alles gar nicht interessiert. Jetzt jedoch begann ich in den Archiven von Magdeburg und Halle zu recherchieren und fand viele Details.
Inzwischen setzte sich auch die Ortsverwaltung von Ottersleben mit mir in Verbindung und schickte mir Zeitungsartikel über die Umbenennung einer Straße zur Christian-Peicke-Straße. Bald erhielt ich einen Brief von der Friedhofsverwaltung, denn nun sollte auch das Familiengrab der Familie Peicke wieder hergestellt werden.
Interesse an der Geschichte
Nach der Wende war das Interesse in der früheren DDR an ihrer Geschichte und den Traditionen erwacht. Mein Urgroßvater war nicht mehr nur der Gutsbesitzer, sondern wurde als Dorfchronist geehrt. Sogar in den Schulen wird seine Chronik im Unterricht herangezogen. Denn die Chronik berichtet über die Geschichte dieser drei Dörfer vom Jahre 900 bis ins Jahr 1902. Christian Peicke schreibt über die Bewohner, die Katastrophen, den 30-jährigen Krieg und den Franzosenkrieg, die Besitzverhältnisse, die Kirche, die Schulen und vieles andere mehr. Und das alles in einer sehr anschaulichen und humorvollen Sprache.
Ottersleben feiert
In diesem Jahr nun feierte Ottersleben den 1075. Jahrestag seines Bestehens. Der Heimatverein Ottersleben und „Bürger für Ottersleben“ beschlossen daher die Neuauflage der Chronik meines Urgroßvaters.
Zur Eröffnung des Jubiläumsjahres am 8. September wurden meine Verwandten und ich als Ehrengäste eingeladen. Leider war ich verhindert. Meine Verwandten berichteten voller Begeisterung über ihre sehr interessierte und freundliche Aufnahme in unserem Geburtsort. Sie bekamen Ehrenplätze und wurden von den Journalisten umringt, die sie nach persönlichen Erlebnissen mit dem Urgroßvater befragten.
Ehrengast
Wenig später erhielt ich vom Festkomitee des Heimatvereins eine Einladung zum Festball im Hotel Ramada für den 26. Oktober. Ich war sehr aufgeregt, denn ich hatte meine Geburtsstadt Magdeburg und meine Heimat Ottersleben seit über 15 Jahren nicht mehr gesehen. Ich hatte zwar seit einigen Jahren einen regen Kontakt zu ein oder zwei besonders engagierten Mitgliedern des Vereins „Bürger für Ottersleben“, persönlich kannte ich aber niemanden. Als ich ankam, wurde ich sehr herzlich als Ehrengast begrüßt und bald erfuhr ich in Gesprächen sehr viel über das Leben der Menschen in meiner früheren Heimat. Am nächsten Morgen zeigte mir ein früherer Lehrer das alte dörfliche Ottersleben und die neue Siedlung, in der auch die Christian-Peicke-Straße ist.
Natürlich gingen wir auch zur Grabstätte meines Urgroßvaters, wo ich den von meinem Stadtführer besorgten Strauß niederlegen durfte. Abschließend besuchten wir einen 90-jährigen „Ureinwohner“, der sich noch an meinen Urgroßvater erinnern konnte. Er hat ebenso wie mein Urgroßvater viel für die Aufarbeitung der Geschichte seines Heimatortes getan.
Weitere Aktivitäten
1952 ist mein Heimatort Ottersleben nach Magdeburg eingemeindet worden. Ich besuchte die hochinteressante Ausstellung „Otto der Große und das Römische Reich“ im Kulturhistorischen Museum, anlässlich des 1100. Geburtstages des Kaisers Otto I. und des 1050. Jubiläumsjahres seiner Kaiserkrönung. Erschöpft konnte ich gerade noch den großartigen Dom besuchen. Der im Jahre 955 begonnene ottonische Dom brannte 1207 weitgehend ab. Mit dem Neubau entstand der erste gotische Kirchenbau Deutschlands. Hier findet man auch die Grabstätten von Otto I. und seiner Gemahlin Editha.
In unmittelbarer Nähe beginnt die Straße der Romanik Sachsen – Anhalt, dazu gibt es als Information eine sehenswerte Ausstellung über die Nord- und Südroute.
Das farbenfrohe Hundertwasserhaus mit seinen beiden Innenhöfen weckte sofort wieder meine Lebensgeister, und ich kehrte in einem gemütlichen Cafe ein. Abschließend kann ich nur sagen, es ist wunderbar, seine Wurzeln wieder zu entdecken und so viele engagierte Menschen kennen zu lernen, die mir meinen Heimatort und auch meine Familiengeschichte wieder näher gebracht haben.
Wenn Sie mehr von Christian Peicke und Ottersleben wissen möchten, klicken Sie auf die untenstehenden Links
http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Peicke
http://de.wikipedia.org/wiki/Ottersleben