Das innere Familienbild

von Uwe Bartholl

Kerzenlicht, Lebkuchenduft, Weihnachtslieder und die Rituale um das Fest herum, sie erzeugen, was wir an Weihnachten in der Familie fühlten und fühlen und erinnern. Es ist ein Teil unserer inneren Bilder von Familie, der beteiligt ist an der Entscheidung: Weihnachten wieder Familienfest oder Côte d’Azur.

Innere Bilder

Es sind jene Bilder, die bei „Familie“ aus dem Inneren aufsteigen, wenn sie durch Denkanstöße oder andere Weckrufe an die Oberfläche unseres Bewusstseins gelangen. Mit ihnen beleben gefühlte und sinnliche Wahrnehmungen die Bühne. Es sind nicht etwa nur Erinnerungen, sondern sie befördern auch all das, was im Laufe des eigenen Familienlebens das darauf bezogene Denken und Handeln bewirkt haben. Und all das, was Menschheitsgeschichte und Kultur an Prägungen hinterlassen haben.

10 Geschwister – 10 Familienbilder

Wir Geschwister tragen alle unsere inneren Familienbilder aus dem Elternhaus mit durch unser Leben. Von diesen inneren Bildern sehen einige sehr ähnlich aus, andere sind wieder so verschieden, dass sie einer anderen Familie zu entstammen scheinen. Immer, wenn wir uns auf unsere gemeinsame Zeit zu Hause beziehen, dann wird deutlich, welche unterschiedlichen Färbungen das hat, was uns miteinander und den Eltern verbindet. Es sind die Erfahrungen und das eigene Wirken an dem Bild, das in jedem von uns entstanden ist und entsteht, und an dem weitergebaut wird durch Hinzufügungen, Streichungen und Korrekturen. Den Bildern ist etwas gemeinsam, das in jedem von uns in unterschiedlicher Intensität zum Schwingen bringt, was uns mit den Eltern, dem Bruder, der Schwester verbindet.

Familienfeeling

Mit den eigenen Familiengründungen wächst die erweiterte Familie ständig. Auf dem letzten Familientag waren 3 Generationen vertreten. Bei allen Begegnungen ist Vertrautheit gegenwärtig, auch dann, wenn sich die Beteiligten fast fremd gegenüberstehen. Ein Vorschuss, den Familie leistet. Beim Abschied nach zwei Tagen sind viele Familienbilder in Teilen überschrieben oder neu entstanden. Das gilt besonders für die Familienmitglieder, die durch Heirat in diese Familie mit hineinwachsen und für die Jüngsten, die staunend diesem Aufgebot von Tanten und Onkels gegenüberstehen. Ein bleibender Erlebnisschatz ist die gefühlte Erfahrung von Zugehörigkeit, die mehr oder weniger das eigene Familienbild stärkt oder verändert. Jenes innere Familienbild, das für das eigene Familienleben im Denken und Handeln orientierend ist.

Das eigene Familienbild

Deutlich ist mein inneres Familienbild geprägt von dem, wie sich in der gemeinsamen Lebenszeit im Elternhaus ein Bild von Familie formte. Geborgenheit und liebende Zuwendung gehörten dazu genauso, wie das Verpflichtetsein auf Gemeinschaft. Es herrschte klare Rollenverteilung: Mutter, Haushalt, Kinder und Kirche; Vater, Gelderwerb und Hausverwalter. So waren auch die Zuständigkeiten für Wertevermittlung und Vermittlung von praktischen Fähigkeiten verteilt. Gemeinsame Mahlzeiten und Spielenachmittage am Sonntag waren eherner Bestandteil der Gemeinschaftspflege. Ebenso die Aufgabenverteilung in Haus und Garten. Mir fiel es früh schwer, das Eigene zu entdecken. Zeitweise litt ich unter dem Anpassungsdruck. Die Familienpräsenz durchzog alle Lebensbereiche und forderte ihren Tribut.

Baustelle Familienbild

Das so entstandene Familienbild deckte sich weitgehend mit dem, was häusliche Erziehung, Schule und Schillers Glocke vermittelten. Rollen- und Aufgabenerfüllung in den Gemeinschaften, um so das Wohl aller zu gewährleisten, war Glück und Ziel zugleich. Um das auch später im Großen leisten zu können, dazu war die Familie ein Lernort. Mit diesem Familienbild starteten meine Frau und ich unsere Familie in den frühen1960iger Jahren. Der gesellschaftliche Wandel für Rollenverständnis und Partnerschaftlichkeit veränderte das orientierende innere Bild von Familie. Hilfreich waren Anregungen wie das Buch von Thomas Gorden, Familienkonferenz. Aber auch die gemeinsame Arbeit am Familienbild von Frau und Kindern. Nach wie vor ist das Familienbild eine Baustelle.

Das andere Familienbild

Der gesellschaftliche Wandel schreibt sich weiter ein in das von bürgerlicher Tradition geprägte Bild. Patchworkfamilien zeigen, dass Trennungen und Neubeginn auch gelingen können, zum Segen beider Partner und der Kinder. Gleichgeschlechtliche Partner kämpfen um die Anerkennung, mit Kindern eine Familie leben zu können. Wiederum hohe Scheidungsraten und misslungene Neuorientierungen werfen Fragen auf, ob die inneren Bilder von Ehe und Familie noch passen. Auch unverheiratet lässt sich Familie gründen. Arbeitswelt und Wertewandel nagen an dem Fortbestand der traditionellen Kernfamilie von Vater, Mutter und Kind. Sie hat – so der achte Familienbericht der Bundesregierung – ihre dominante Stellung eingebüßt.

Ein Leben lang

Die Sehnsucht nach den Grundwerten von Geborgenheit, Zuneigung und Fürsorge wird in den Wunschbildern von Familie gestillt. Ebenso die Freude an der Bereicherung durch Kinder. Doch zum inneren Bild gehört auch, dass Familie als ein auf Beständigkeit angelegtes Projekt ins Leben gerufen wird. Im Familienwissen ist gespeichert, was an Tugenden und persönlichem Einsatz dazu von Nöten ist. Taugt das innere Bild von Familie, dass als Orientierung diesem Anspruch gerecht werden kann? Das gilt es zu prüfen, erforderlichen Falls zu korrigieren und auf die herrschenden Lebensbedingungen abzustimmen. Weihnachten also Familienfest oder Côte d’Azur? Eben das, wozu die handlungsleitenden inneren Bilder den Entscheidungsrahmen bilden.

Quellen

Gerald Hüther, Die macht der inneren Bilder; Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen,
7. Auflage

Achter Familienbericht der Bundesregierung

Definition Familie

Von den Ursprüngen der Familienbildung bis zum heutigen Familienbild