Wendepunkt

von Liane Rohn

Als wir uns über Werte und die Zeit Gedanken machten und herausfanden, dass bei  Heranwachsenden der Wertebegriff eine andere Relevanz hat als bei Erwachsenen, die Zeit  immer wieder neu definiert wird, befanden wir uns bewusst oder unbewusst  an Wendepunkten.

So, wie Völker und Staaten in der Geschichte und Gegenwart immer wieder an Wendepunkte stoßen, geschieht es im Leben einzelner Menschen.
Gelangen wir an einen Wendepunkt im Leben ist zu entscheiden, vertrauensvoll nach vorn zu schauen oder rückwärts blickend stehen zu bleiben, zu erstarren.
Sören Kirkegaard sagt: etwas wagen heißt, für kurze Zeit den Boden unter den Füßen verlieren,, nichts wagen  heißt, sich selbst verlieren
Zwischen beiden zu entscheiden blieb uns nur wenig Zeit.
Dem Ende folgt ein Neuanfang, dazu braucht es ein Ziel.
Oder anders formuliert geht jedem Neuanfang ein Ende voraus, mit gehabtem Ziel. Das kann ein „kleiner Tod“ sein – , wie ein bisschen sterben! Wie einschneidend Wendepunkte auch sein mögen, es finden Zäsuren und mehr oder weniger feine Risse am Ende einer Lebensphase statt. Die Chancen, Kurskorrekturen vorzunehmen sollten wahrgenommen werden, wenn es die Zeit und die augenblicklichen Umstände gestatten.
Das genau stand uns im Wege.

Entscheidungen in höchster Zeitnot.

Ein anregender Samstagabend im Jahr 1960 ging zu Ende. Zwischen Dienstreise von Qu. nach Halle, mit Abstecher zu den Eltern in Thüringen, um nach langer Zeit den zu Besuch weilenden Bruder aus der BRD wiederzusehen, wurde plötzlich das ganze bisherige Leben auf den Kopf gestellt. Im Erdgeschoss war ich gerade eingeschlafen, als heftiges Klopfen am Fenster, mich hochfahren ließ. Ich ging zur Haustür, an der mein Mann mit einem Freund stand. Beide erklärten kurz und knapp, was geschehen war, zu mehr war keine Zeit, der Freund musste rasch mit seinem Motorrad zurück, um sein nächtliches Verschwinden unentdeckt zu lassen. Von zuverlässiger Stelle hatte er erfahren, dass mein Mann, der sich noch in einer Bewährungszeit befand, am folgenden Mittwoch nach diesem Samstag erneut vernommen werden sollte. Er war nach einer Untersuchungshaft, angeklagt wegen Staats gefährdenden und Staats verleumdenden Äußerungen zu vier Monaten Gefängnis mit 2 Jahren Bewährung verurteilt worden. Und nun drohte ihm eine erneute Vorladung bei der Kriminalpolizei. Das Risiko, erneut inhaftiert zu werden, war groß.

Rasches, kluges Handeln war angesagt.

Mein Bruder und seine Frau wurden geweckt, um die fatale Lage zu erklären, zu besprechen, wie die Eltern uneingeweiht  bleiben müssen, über das, was wir vorhaben. Der Gedanke, vielleicht die Eltern nie mehr wiedersehen zu können, war fast unerträglich. Dennoch galt es, keine Zeit zu verlieren und Haltung zu bewahren.

Fluchtplanung

Es gab zu der Zeit kaum private Telefone, und in einem 120-Seelen-Dorf nur ein öffentliches Telefon, Gott sei Dank mit einem Telefonbuch. Es mussten Zugverbindungen nach Berlin erkundet und notiert werden. Die Schwiegermutter war durch ein Telegramm unverfänglichen Textes zu informieren, weshalb wir erst im Laufe des Dienstag zurück kommen könnten und wir mussten uns glaubhaft eine Erkrankung  einfallen lassen.
Gedanklich durchspielen, wie der Tag und das Ende eines  Lebensabschnitts verlaufen könnte, und warum wir an einem Sonntag  nach Berlin fahren, wo eine „erfundene“ Geschäftsbesichtigung auf der Stalinallee im gefälschten Dienstauftragsformular vorgesehen war. Den dafür nötigen Dienstauftrag hatte ich selbst ausgestellt, denn ein glücklicher „Zufall“ spielte mir unter meinen Einkaufsunterlagen einen leeren Dienstauftrag zu.

Und noch einmal die Frage, warum an dem Sonntag nach Berlin reisen und nicht am Montag zu normalen Geschäftszeiten. Die Erklärung ergab sich aus einem Festival in Ostberlin,  ( das hörten wir am Morgen aus dem Fernseher,) auf dem Paul Robsen, ein schwarzer amerikanischer Sänger auftrat, den wir unbedingt sehen und hören wollten!
Der Sonntag bedeutete für uns Zeitgewinn.. In der Aufenthaltsgenehmigung meines Bruders war die Rückreise in die BRD für Dienstag eingetragen. Also durfte unsere Flucht nicht entdeckt werden, bevor er und die Schwägerin die Grenze passiert hatten.
Bedenkt  man den Zeitraum, in dem all diese Vorkehrungen getroffen werden und möglichst schlüssig sein mussten, stellt man fest, wie viel Kraft  doch in einem Menschen steckt, wenn die Not groß aber die Hoffnung stärker ist, dass alles gut enden wird.

Ein besonderer Abschied von den Eltern

und doch mit sehr kontrollierten Gefühlen, die Umarmungen herzlich verhalten. So verließ ich mit meinem Mann das Elternhaus, meine, unsere Heimat.  Zurück gelassen all die Habe eines eigenständigen Haushaltes, reale Wertgegenstände, und die Freunde, Verwandten, stille Gedenkstätten. Ja, es ist wahr, die Heimat verlassen müssen ist auch wie ein bisschen sterben.
Viele Tausend Bürger verließen genau zu dieser Zeit die DDR über Berlin, getarnt als Urlaubsreisen an die Ostsee, was oft aufflog, weil die Reisenden bei Kofferkontrollen Sachen mit sich führten, die absolut nicht zum Urlaubsgepäck zählten. So traurig alles war, kam uns der Mangel, nur einen Aktenkoffer mit etwas Wäsche, den Geschäftsunterlagen und sonst nichts bei uns zu führen, tatsächlich zugute.
Dass ich bei der Passkontrolle zufällig an eine Polizistin geriet, die aus meinem Heimatort stammte, mich in ein kurzes privates Gespräch „verwickelte“ und weder mich noch meinen Mann weiter befragte, gab uns zunächst ein beruhigendes Gefühl.

Im Fokus: der Ostberliner Bahnhof Friedrichstraße.

Nach endlos scheinenden Stunden und immer neuen Zollkontrollen fuhren wir am Bahnhof Friedrichstraße ein – der sogenannte „letzte Aufenthalt im demokratischen Sektor Berlins“. Und es wimmelte geradezu vor auf und ab marschierenden Polizisten.am Bahnsteig.
Endlich lief jener S-Bahnzug ein, der von hier nach Westberlin führte. Der normale Aufenthalt belief sich auf das Aus-  und Einsteigen, hier aber dauerte er sieben Minuten- eine schier ewig erscheinende Zeit. Getrennt, wie vorher abgesprochen, nahmen wir Platz, Ich weiß noch genau, wie mich plötzlich eine eisige Ruhe überkam und setzte mich bewusst ans Fenster zum Bahnsteig hin. Neben mir saß bereits ein Herr. Jeden Moment konnte ein Grenzpolizist in das Abteil kommen, dann war es aus mit der Flucht. Kein Pfiff, kein Signal – endlich setzte sich der Zug in Bewegung.

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Mit angehaltenem Atem, den Kopf ganz nach vorn gerichtet, sah ich auf einmal, befreit aufatmend, als erstes die Werbung des HB-Zigaretten-Männchens. Endlich wagten mein Mann und ich uns anzuschauen, und der Herr neben mir sagte ganz still: „Diesen Stein habe ich plumpsen gehört, der von ihrem Herzen fiel.“
Ja, das war die Erlösung, wir waren in der Freiheit angelangt, die Flucht zu Ende, und am Wendepunkt in ein anderes, ungewisses Leben angekommen.

Quelle:

Das Buch „Zufälle“ : Lebensfragmente
Liane Rohn
Manuela Kinzel Verlag 2006