von Roswitha Ludwig
Die Menschen jener Zeit lebten näher an und mit der christlichen Botschaft als viele heute. Zeit und Ewigkeit wurden in Verbindung gesehen. Das kurze Erdenleben sollte im Blick auf das Danach geführt werden. Anleitungen gab die Kirche als Autorität mit Absolutheitsanspruch.
Nah zum Ende leben
„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“.., so beginnt ein mittelalterlicher Choral, der in Martin Luthers Bearbeitung in das evangelische Gesangbuch gelangt ist. Der Tod, das Ende der Lebenszeit, und die christliche Erlösungsbotschaft, das gilt heute wie gestern. Doch im Mittelalter und Barock erwuchsen daraus andere Schwerpunkte. Weil diese im Fokus stehen, wird die Vergangenheitsform gewählt.
Paul Gerhardt dichtete 1666/67: „Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand; der Himmel soll mir werden, das ist mein Vaterland.“
Allgegenwärtig war der Tod, etwa der Hungertod durch Missernten. Die hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit zerriss Familien in jungen Jahren. Seuchen wie die Pest oder andere Krankheiten und Kriege entvölkerten ganze Landstriche. Um 1400 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 35 Jahren. Ärztliche Hilfe bei Krankheiten oder Linderung bei Leiden gab es kaum. In einem Lied heißt es: „Hier ist doch nur ein Tränental, Angst, Not, Müh, Arbeit überall.“1)
Drohendes Gericht
Das Freiburger Münster zeigt wie andere gotische Kathedralen am Westportal Szenen des Jüngsten Gerichtes. Wer sich näherte, sollte sich das Ende vergegenwärtigen. Die Waage, mit der die guten und bösen Taten abgewogen werden, taucht schon in ägyptischer Zeit auf.
War der Besucher eingetreten, so konnte er im hohen gotischen Kirchenraum den Ort der Erlösten erahnen, das verheißene himmlische Jerusalem.
Wer es mit dem bevorstehenden Gericht ernst nahm, bereitete sich darauf vor, nützte seine Zeit. Teufel und Hölle wurden in Kunst und Literatur thematisiert. Qualvoll stellte man sich die Strafen für die Verfehlungen im Leben vor. Gebete, Wallfahrten, Fürbitten und gute Werke bis zum Kauf von Ablass-Zetteln konnten zur Rettung und Milderung beitragen.
Wer reich genug war, sorgte dafür, dass nach seinem Tod viele für ihn beteten. Zu Grablegen von Herrschern gehörten oft Klöster mit diesem Auftrag. Die Bewohner der Fuggerei in Augsburg bekamen die Auflage für die Familie Fugger zu beten. Auf vielfältige Weise waren Verstorbene in das Leben einbezogen.
Nah dem Jüngsten Tag
Ebenso, wie an das individuelle Ende gedacht wurde, wähnte man sich dem Ende der Zeit nahe. Christlicher Glaube rechnet mit der Wiederkunft Christi. Die Urgemeinde lebte mit dieser Naherwartung. In die ganze Welt sollte bis dahin die Glaubensbotschaft gelangt sein, gemäß dem Missionsbefehl (Matth.28,19).
Zum Mittelalter gehörte das apokalyptische Denken. Die schwer zu deutenden Bilder der Offenbarung des Johannes wurden immer wieder herangezogen, wenn man von diesem unvorstellbaren Ereignis sprach. Zeichen für das Ende spürten die Theologen beobachtend am Himmel auf, ebenso führten sie Naturkatastrophen und Epidemien dafür an. Jahreszahlen wie die Jahrtausendwende um 1000 oder um 1500 veranlassten zu Spekulationen. Johannes Fried stellt in einer Studie fest: „Individuelles und kollektives Handeln und Denken folgten bald direkt, bald indirekt endzeitlichen Erwartungen und Winken, alles Planen und Hoffen, kurzum: das ganze Leben.“ 2) Beides war also präsent, Gedanken zum individuellen Ende und zum Ende der Zeit.
Der personifizierte Tod
„Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, hat Gwalt vom großen Gott“ … so beginnt ein mittelalterliches Volkslied. Die Skelettfigur mit Sense war die Allegorie für den Tod. Wie der mähende Bauer Gras, Blumen oder Getreidehalme schnitt, so traf die Sense des Todes. Sie trennte den Leib von der Seele. Die Blumen im Lied werden in den himmlischen Garten verpflanzt.
Um 1400 schrieb Johann von Tepl den „Ackermann von Böhmen“. In dem Dialogstück klagt ein junger Witwer voller Verzweiflung den Tod an. Alles hat er ihm genommen, weil seine Frau im Kindbett gestorben ist. Nicht schicksalsergeben fügt er sich, sondern begehrt auf. Freude, Glück, alles wurde ihm geraubt. Doch der Tod verweist auf die Eitelkeit und Hinfälligkeit alles irdischen Seins, über das ihm Gott die Macht gegeben hat. Die Menschen würden das vergessen und stattdessen an Reichtum und die Ausbeutung der Natur denken.
Hans Holbein d. J. schuf 33 Holzschnitt-Tafeln, in denen der Tod unvermittelt bei allen Ständen auftritt. Solche Totentänze waren verbreitet.
Ars moriendi – Sterbekunst
Erbauungsschriften zur christlichen Vorbereitung auf den Tod waren im Spätmittelalter verbreitet. Um 1450 ist eine im Umlauf mit elf Holzschnitt-Tafeln. Gezeigt wird ein Sterbender, um dessen Seele der Kampf tobt. Fünf Versuchungen werden dargestellt:
Versuchung im Glauben, Verzweiflung, Ungeduld, Hochmut, Besitz
Diesen werden jeweils die fünf Tröstungen gegenübergestellt:
Ermutigung, Zuversicht, Geduld, Demut und die Abwendung vom Irdischen.
Das letzte Bild zeigt den Verstorbenen, der nun sein Leben erlöst hergeben kann. So belehrt sollten die Menschen leben und ihr eigenes Ende vorbereitet bestehen. Das Werk fand großen Zuspruch.
Der Schweizer Historiker Arthur E. Imhof macht es auf einer Homepage kommentiert zugänglich.
Seinem Resümee kann man nur zustimmen:
“Menschsein heißt, die von Anfang an in uns angelegte Spannung zwischen Werden, Sein und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten, sowie den uns von Natur gegebenen Tod zur rechten Zeit auf uns zu nehmen.“
Vergänglichkeit – Vanitas
Das Zeitalter des Barock hat die Gegensätze zwischen Schönheit, Lebensgenuss und Vergänglichkeit (Vanitas) besonders im Blick. Die Schreckenszeit des Dreißigjährigen Krieges lag hinter den Menschen. In zahlreichen absolutistischen Residenzen erstrahlte wieder üppige Pracht, die Kunst des Barock. Zwei Beispiele aus Malerei und Dichtkunst sollen das veranschaulichen.
Stillleben zeigen die Vergänglichkeit mit Symbolen wie Totenschädel, Stundenglas und erloschene Kerze.
Andreas Gryphius (1616 – 1664) beschrieb in der strengen Form des Sonetts die Vergänglichkeit, die Nichtigkeit des Daseins.
„Es ist alles eitel
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden!
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;…..“
Oder an anderer Stelle:
„Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?“
Er endet:
„Noch will, was ewig ist, kein einig Mensch betrachten.“
In anderen Gedichten wird deutlich, dass er die Erfahrung der Vergänglichkeit mit christlicher Hoffnung verband.
Fazit
Mit Sterben, Tod und Erlösung beschäftigten sich die Menschen der angesprochenen Zeit sehr intensiv in ihrem viel kürzeren Leben, in ihren ganz anderen Zeitverhältnissen. Doch sie versuchten, irgendwie unter der Herrschaft des Todes Leben zu haben.
Versuchen die heutigen Menschen nicht eher, diesen Teil des Lebens zu verdrängen? Im Zauberberg (1924) von Thomas Mann heißt es: „Der Mensch soll um der Güte und der Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“ Bekommt dann nicht auch seine Zeit eine andere Qualität? Könnte man nicht sagen, eine mit geringerer Wertigkeit?
Andreas Gryphius verweist in seinen Betrachtungen zurzeit auf den Augenblick auf den kostbaren Augenblick.
Betrachtung der Zeit
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen,
mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein und nehm ich den in acht,
so ist der mein, der Jahr und Augenblick gemacht.
Links und benutzte Literatur
Lieder aus dem Evangelischen Gesangbuch
Nr. 518 Martin Luther: Mitten wir im Leben sind
1) Nr. 525 Johann H. Schein 1628: Mach´s mit mir Gott nach deiner Güte
2) S. 41 Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang, München 2001
Johann von Tepl: Der Ackermann und der Tod
Arthur E.Imhof über die Ars moriendi
Tafeln des Totentanzes von Hans Holbein d. J.
Gedichte von Andreas Gryphius