von Barbara Heinze
Der Begriff „Zeit“ ist so vielfältig und weitreichend. Für mich ist er Beginn und Ende, Vergangenheit und Zukunft, Verweilen und Fliehen. Wie also soll man sie beschreiben?
Am besten vielleicht mit konkreten Beispielen aus dem täglichen Leben, z.B. in Form meines Rückblicks in die vergangene Woche.
Montagmorgen – Rudern
Es ist Ostermontag, grau, verhangen, regnerisch. Nach den termingefüllten Ostertagen wollte ich es ruhig angehen lassen und nahm mir Zeit für ein üppiges Frühstück mit ausgedehnter Zeitungslektüre. Als Alleinlebende kann ich mir meine Zeit nach Belieben einteilen.
Da klingelte das Telefon: eine Freundin überredete mich zu einem „Vierer“ im Ruderboot. Und das bei Nieselregen und „winterlicher Kälte“ um 2 Grad Celsius. Wenngleich sich drei von vier Personen lieber ein Kaffeetrinken wünschten, zogen wir uns dennoch um. Und siehe da, der Regen hörte auf. Unser Ruderboot glitt herrlich dahin auf der Donau. Es klarte immer mehr auf und die Sonne kam heraus. Nun wollten wir gar nicht mehr aufhören. Keine Menschenseele war zu sehen. Weder auf der Donau noch am Ufer. Kaum hatten wir unser Ziel nach zwei Stunden wieder erreicht, verfinsterte sich der Himmel, und wir konnten gerade noch das Boot und uns selbst ins Trockene bringen. Regen bis zum späten Abend.
Diese Zeitwahl war eine ausgesprochene „Punktlandung“.
Zwei Stunden eines Glücksgefühls. Ein bemerkenswertes Zeitfenster, an das wir uns immer erinnern werden.
Montagnachmittag – Kaffeetrinken
Meine Chorschwester Julia hatte mich zum Kaffee eingeladen. Sie lebt seit dem Tod ihres Mannes vor wenigen Monaten mit 81 Jahren allein in einem großen „Palast“, den ihr Mann als Architekt für die Familie großzügig geplant hatte.
Zunächst kreiste unser Café-Gespräch um ihre Gesundheitsbeeinträchtigungen und ihre Sorgen, wie sie weiterhin das Haus unterhalten könne, um möglichst lange hier zu leben. Dann jedoch hatte uns das neue Ipad, ein Geschenk ihres Sohnes, in den Bann gezogen. Trotz allem ist sie noch voller Tatendrang und an allem Neuen interessiert.
Da der Sohn ihr gleich einige APPs installiert hatte, die auch mir als Nichtbesitzer eines Ipads neu waren, entdeckten wir beiden „Neulinge“, wie Mails mit Fotoanhang verschickt werden können. Dabei räumten wir die Postfächer auf, die von Mails nur so überquollen. Außerdem machte es uns riesig Freude, im Internet nach einem bestimmten Kupferstichmotiv von Albrecht Dürer zu suchen, z.B. im „MOMA“ in New York oder in der Stuttgarter Nationalgalerie.
Um 22 Uhr endete unser „Kaffeetrinken“, für uns eine kostbare Zeit, die durch nichts zu ersetzen ist.
Dienstag – Skypen mit meiner Freundin
Meine Freundin Heidi lebt mit ihrem Mann in Norddeutschland, und ich kann sie nicht einfach mal zum Kaffe besuchen. Sie stellt sich ihrer schweren Lebenssituation, die nach der letzten Krebstherapie keine Aussicht auf Heilung zulässt. Um regelmäßig im notwendigen Kontakt zu bleiben, nutzen wir Skype, was ihr auch die Begegnungen und Gespräche mit ihrer Tochter samt Familie in Neuseeland erleichtert.
Heute „skypten“ wir ausgiebig zwischen Norddeutschland und Ulm.
Alle wichtigen Begebenheiten wurden ausgetauscht. Dieses Miteinander über Skype ist für sie sehr wichtig, weil eine weite Reise sehr belastend für sie ist.
Ihre Zeit ist begrenzt. Sie weiss darum und nutzt umsomehr alles, was Erleichterung aber auch Freude in sich birgt. Es fällt mir leicht, über alles mit ihr zu reden, weil sie so tapfer ist und eigentlich immer noch „die alte“ von damals ist, als wir Freundinnen wurden.
Mittwoch – ins Kino gehen
Der Filmtitel „Barbara“, war für mich vielversprechend – trug er doch meinen Namen. Die guten Kritiken gaben Ansporn, in die „Lichtburg“ zu gehen. Hier saßen ältere und jüngere Interessenten. Die Handlung: DDR, eine Ärztin, „zur Strafe“ in die Provinz versetzt, verliebt sich in einen Arzt und er in sie. Der Regisseur Christian Petzold – in der DDR geboren und aufgewachsen – zeichnete keine penetrant „verkommene und verfallene“ DDR, sondern durchaus bunte Bilder. Der Film ging unter die Haut: die perfiden Methoden der Kontrolle, die Heimlichkeiten, das Misstrauen, die Furcht. Für mich eine besonders grausame Szene um das junge Mädchen „Stella“, die nach einer Flucht aus einem berüchtigten DDR-Straflager bei der Ärztin Hilfe suchte. Betroffen von den Aussagen des Films sprachen wir noch lange über die Erfahrungen, die wir selbst mit der DDR gemacht hatten, z.B. an den Zonengrenzübergängen oder bei Besuchen von Verwandten.
Welch glückliche Zeit für uns, die „sanfte“ Revolution, den Fall der Mauer erleben zu dürfen. Eine neue Zeitrechnung beginnt: vor dem Mauerfall und danach, sogar mit Auswirkungen weltweit.
Donnerstag – Nachbarschaftshilfe
Nach dem Frühstück bringe ich die Zeitungen in die Wohnung meiner Nachbarn, eines jungen Elternpaares. Während ihres Urlaubs versorge ich Wohnung und Katze, damit die jungen Eltern mit ihrem zweijährigen Kind mal etwas Abstand nehmen können auch hier von einer schweren Last, die manchmal unerträglich erscheint. Nach der Geburt des 1. Kindes war der Krebs wieder ausgebrochen. Ob sie weitere Kinder bekommen dürfen? In der Küche sehe ich das Bild dieser drei glücklichen Menschen. Aus Gesprächen weiss ich, dass der junge Vater sehr unter dieser Situation leidet. Für mich ist es jedes Mal ein erhabener Moment, wenn er nach einer Ausfahrt das Kind aus den Decken des Fahrradanhängers herausschält und seine Frau das Kind freudig in die Arme schließt.
Wie viel Zeit mag ihr noch bleiben, Zeit, mit der Familie zu leben?
Freitag – Vorbereitung eines Verwandtenbesuches.
Ich bereite meinen Besuch in meiner Heimat, im Saarland vor. Meine Tante Maria hat einen halbrunden Geburtstag (85Jahre) und versammelt ihre Kinder und Enkelkinder um sich. Selbst kinderlos war Maria und ihre Familie immer schon eine kleine Ersatzfamilie für mich und sie sind es noch heute. Die größte Freude ist mein Patenkind Lisa-Karin, Marias Enkelkind. Ich zittere mit allen, dass die Ankunft aus Thailand zum Fest glücken möge.
Nach einer Tsunamiwarnung war der Flughafen Puket gesperrt.
Berufsausbildung in verschiedenen Epochen
Marias Tochter Kerstin ist froh, dass ihre studierende Tochter noch mit ihr verreisen kann. Wenn Beruf und Familie sie in Anspruch nehmen, wird das wohl nicht mehr so gut zu organisieren sein. Lisa-Karin will Studienrätin werden.
Ihre Mutter Kerstin und Großmutter Maria hatten nicht diese Möglichkeiten. Oma Maria besuchte nur eine Nähschule und sorgte für die Familie. Nach dem frühen Tod ihres Mannes lebte die junge Witwe am Existenzminimum und hatte nur Hilfe durch Schwestern und Schwager. Kerstin wollte ihren Traumberuf Friseuse lernen, musste aber die Lehre wegen einer Allergie abbrechen und wurde Krankenschwester. In diesem Beruf ist sie sehr glücklich. Dennoch haben sie und ihr Mann inzwischen gelernt, wie wichtig Bildung ist und unterstützen ihre beiden Kinder beim Studium.
Wandel der Zeit
Ich sehe in diesen Biographien den Wandel der Zeit: Die Abhängigkeit vom Ehemann um die Jahrhundertwende 18./19. Jahrhundert, dann die Möglichkeit einer selbständigen Berufswahl (siebziger Jahre) und schließlich die finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit von vielen jungen Frauen heute.
Die Zeit fließt nicht gleichmäßig, sondern es sind z.T. gewaltige Umbrüche vorhanden, wie es sich in der DDR vollzogen hat.
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