von Erdmute Dietmann-Beckert
McClintock, der Kapitän sagte: „Es war eine würdige und tapfere Schiffsmannschaft. Die Zeit war zu lang für sie. Wer nicht weiß, was Zeit ist, versteht kein Bild.
Langsamkeit, ein Thema unserer Zeit?
Alles muss schnell gehen, das Telefonieren, das Autofahren, die Arbeit im Internet. Sten Nadolnys Roman heißt die „Entdeckung der Langsamkeit“. Die Hauptfigur, John Franklin, ist seit seiner Geburt langsam. Für seine Entdeckungsreisen war sie kein Hindernis. Er hatte sogar Erfolg. Nur seine letzte Reise endete für ihn und seine Mannschaft mit dem Tod. Das jedoch schadete nicht seinem Ruhm.
Mein Text ist keine Rezension des Romans. Ich beschreibe, was mich fasziniert hat.
Der Autor
Sten Nadolny wurde am 27. Juli 1942 in Zehdenick an der Havel geboren, aber in Oberbayern ist er aufgewachsen. Er studierte Geschichte und Politikwissenschaft unter anderem in Berlin, wo er auch promovierte. Aus einem Drehbuch für einen Film entstand 1981 sein erster Roman „Netzkarte“. Sein Roman, „Entdeckung der Langsamkeit“ wurde ein Welterfolg.
Nadolny erhielt mehrere Literaturpreise. An der Universität München hielt er Vorlesungen im Fachbereich Politik. 2005 wurde er als Stadtschreiber nach Mainz berufen. Heute lebt er in Berlin.
Der britische Konteradmiral
Nadolnys Hauptfigur, John Franklin, hat ein historisches Vorbild. Der Kapitän und Polarforscher lebte von1786 bis 1847. Er kämpfte bei Trafalgar gegen Napoleon, erforschte die Arktis und war Gouverneur auf der Gefängnisinsel Tasmanien. Von seiner letzten Expedition in das arktische Eismeer kehrte er nicht mehr zurück.
John Franklin, der langsame Seefahrer
John ist so langsam, dass niemand mit ihm spielen will. Auch die Geschwister hänseln ihn. In der Schule wird er verspottet. Nur ein Lehrer hat Geduld mit ihm und unterstützt ihn in seinem Wunsch, zur See zu fahren.
Als Fünfzehnjähriger darf er mit seinem Onkel um Australien herum segeln. Aber ihr Schiff bricht auseinander. John muss auf einem anderen Boot die Rückreise antreten. Insgesamt drei Jahre ist er unterwegs.
In der Schlacht vor Trafalgar, im Kampf zwischen französischen und englischen Kriegsschiffen, trifft ihn eine Kugel mitten auf die Stirn. Er kann geheilt werden und bald wieder seinen Dienst antreten. Zurück bleibt die Narbe auf der Stirn. „Krieg macht für mich keinen Sinn,“ sagt er. Später wird Franklins Kopfverletzung als Grund für seine Langsamkeit erklärt.
Die Expedition auf dem Fluss
Nach einer Pause ist John Franklin als Befehlshaber, nicht als Kommandant, zur arktischen Küste unterwegs. Es ist eine lange Reise. Die Vorräte werden knapp, der Hunger quält. Die Kälte nimmt zu, es gibt nichts zu jagen. Einer nach dem anderen stirbt. Nur wenige Freunde um John leben noch, wenn auch geschwächt. Fast wären sie das Opfer des Irokesen Michel geworden. Der hatte den Gewehrlauf auf John gerichtet, … dann fällt jener selbst um. „Zehn Jahre Krieg – was denken Sie denn, was ich da getan habe?“ erwidert Franklin. Am nächsten Tag erreichen die Männer das Fort.
Die Nordwestpassage war nicht gefunden worden. Auch eine Verbindung mit den Eskimos hatten sie nicht knüpfen können.
Der Reisebericht
Zunächst hatte John Franklin viel Zeit. Ein neues Kommando war nicht in Sicht. Er grübelte. Man war ihm mit Spott und Tadel begegnet. Dann hatte er eine Idee. Er wollte ein Buch schreiben und sich rechtfertigen: „Über eine Reise zu den Küsten des Polarmeeres“ sollte der Titel sein.
Er holte sich Rat bei der Dichterin Eleanor. Das Buch musste gut geschrieben sein. Der Bericht sollte die Leser nicht langweilen. Den Schluss wusste er schon: „So endete unsere unglückliche Reise in Nordamerika“. Es wurde ein Buch von dreihundert Seiten. Und es war teuer. Alle Welt wollte es haben. Der Verleger kam mit dem Drucken nicht nach. John Franklin wurde in die Royal Society aufgenommen und man beeilte sich, ihn endlich zum Kapitän zu ernennen. Mit dem verdienten Geld hätte er ein eigenes Schiff ausrüsten können.
Gouverneur der Strafkolonie
Die Insel südlich von Australien, Van Diemen’s Land, war die Strafkolonie Englands. Dort sollte John Franklin Gouverneur werden. Seine Vorgänger hatten auf Gehorsam und Strafe gesetzt; John wollte Gerechtigkeit und Gleichbehandlung. Die Gefangenen wurden nicht wie Menschen mit Würde behandelt. Als wieder einmal ein neues Schiff mit Sträflingen aus England die Insel erreichte, ging Franklin an Bord und erklärte den Sträflingen, dass sie nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte hätten.
Den Ureinwohnern wollte John Franklin ihre Würde wieder geben und ihnen zu besserem Land verhelfen. Eine Schule war geplant. Doch er stieß nicht nur auf den Widerstand der weißen Landbesitzer, sondern auch auf die Mißgunst der Beamten.
Nur vier Jahre konnte er sich halten. Seine Feinde waren diejenigen, die meinten, dass man ihnen ihre Rechten beschneiden wollte. Sie sorgten dafür, dass Franklin abberufen wurde.
Der Freund
Sherard Lound war der Einzige, der John Franklin verteidigte, wenn er verspottet wurde. Als zehnjähriger Volontär war er mit nach Australien gefahren. Dort schlug das Schiff leck. Sherard wollte auf der „Terra Australis“ bleiben. Wenn John sich später nach ihm erkundigen wollte, hatte niemand von ihm gehört.
Während einer Parade auf Tasmanien, wie die Gefängnisinsel benannt worden war, entdeckte John Franklin einen Mann, der, wie man ihm sagte, seit Tagen unentwegt auf das Meer blickte. Er erfuhr, dass sich der Fremde John Franklin nannte und dass er nach fünfzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war. Sein Gesicht war zerstört. Er hatte nur noch eine Wange, die Zähne lagen blank im Mund. John stellte sich neben ihn und sagte: „Sherard!“ Anstatt zu antworten, reichte dieser ihm einen Bissen Brot. Die Freunde hatten sich wieder erkannt. Es war eine bewegende Begegnung. Bis zu seinem Tod durfte Sherard in Johns Haus wohnen.
Die Frauen
Mary Rose bezahlte er und liebte sie so, dass er bei ihr bleiben wollte.
Flora Reed, die Witwe des Predigers, liebte er nur halbherzig und war froh, als er sie wieder los war.
Eleanor Pordens Vater war ein berühmter Architekt, sie war einziges Kind und eine Dichterin. Johns Heiratsantrag lehnte sie „vorerst aus Langsamkeit“ ab. Einige Jahre später heirateten sie und das Kind Ella wurde geboren. Eleanor starb, kurz nachdem John zu seiner arktischen Entdeckungsreise aufgebrochen war.
Mit Jane Griffin verlobte sich John, als diese einmal nicht auf Auslandsreisen war. Er brauchte eine Mutter für seine Tochter. Sie heirateten, als John Gouverneur wurde. Jane hatte eine schnelle Auffassungsgabe, die beiden ergänzten sich. Auf der Gefängnisinsel unterstützte sie ihn bei seinen Demokratiebemühungen.
Jane und die Nichte Sophia, Johns letzte Liebe, ruhten nicht, bis der Grund für das Scheitern der letzten Reise gefunden war: die Mangelkrankheit: Skorbut. Den Männern waren die Zähne ausgefallen.
Zum Schluss
Als John Franklin seinen alten Lehrer Dr. Orme besuchte, erzählte ihm dieser die Geschichte von der Schildkröte, die auch der schnellste Läufer der Welt nicht überholen konnte. Achilles, der Läufer, hatte der Schildkröte einen kleinen Vorsprung gegeben. Aber immer, wenn er an die Stelle kam, wo die Schildkröte gesessen hatte, war diese wieder ein Stück weiter gekrochen. John freute sich. Aber später meinte er zu seinem Lehrer: „Das mit dem Wettlauf kann doch nur die Schildkröte erzählt haben.“
Bibliographie und Links
Nadolny, Sten. Die Entdeckung der Langsamkeit. München 2010.
Links
Sten Nadolny Gespräch mit Inge Rau
Biographie v. Hannes Dolblhofer
Biographie