von Uwe Bartholl
Was, du bist über achtzehn? Ausweis bitte! Wieder so eine Beleidigung. Ich war mit zweiundzwanzig Jahren längst über zwanzig! Nicht einmal das Rauchen verhalf mir zum Erwachsenenstatus.
Endlich erwachsen sein
Ich wollte endlich als Erwachsener gelten, zu denen mein um ein Jahr älterer Bruder längst gehörte. Das Mindeste war, dass Fremde mir mit einem „Sie“ begegneten. Mein Outfit sollte jeden Zweifel an meinem Erwachsensein zerstreuen.
Denn als frischer Referendar an den Berufsbildenden Schulen in Stade, ging ich mitunter flott als Schüler durch. Den Eltern und Partnern in der Berufsausbildung war ich vielfach noch nicht trocken hinter den Ohren. Doch ob Schüler, Eltern oder Kaufleute, bald war die junge Nachwuchskraft akzeptiert und genoss den Jugendlichkeitsbonus. Immerhin ging ich auf die Dreißig zu und konnte es gelassen sehen, dass ich bei den Anfang Zwanzigern eingereiht wurde. Da aber schon ein Studium hinter mir lag, lies sich rechnerisch ermitteln, dass nicht sein konnte, was man altersmäßig in mir zu sehen meinte.
Jünger als an Jahren
Und heute? Nein, schon viel früher hatte sich mein Umgang mit dem geschätzten Alter total gewendet. Was, fünfzig schon? Das hätte ich nie gedacht. Doch. Na, hast Dich aber gut gehalten. Mein eitles Ego war’s zufrieden. Auch mit meinen jetzt achtzig Lenzen überrasche ich bei guter Tagesform so manchen, der das Alter wissen möchte. Längst bin ich damit jedoch kein Einzelfall, wie die meisten Leserinnen und Leser selber wissen. Wohlgemerkt: an guten Tagen. Dazu verhilft wiederum das Outfit und die Abwesenheit von zu viel Zeichen des sichtbaren Alterns. Jedoch schon der Gebrauch eines Gehstocks zehrt den vermeintlichen Vorsprung auf. Oder, dass mir mal wieder der Name nicht einfällt von Frau …, die mir freundlich lächelnd entgegenkommt. Oder die Lupe im Supermarkt.
Der kleine Unterschied
Rückblickend habe ich mich nie so alt gefühlt, wie der Kalender anzeigte, aber, wer hat das schon? Ich muss gestehen, auch mit zweiundzwanzig habe ich mich nicht so gefühlt wie ich wollte, dass ich gesehen werde. Doch wie, bitte schön, soll sich denn ein bestimmtes Alter anfühlen? Die jungen Jahre sind lange von aufbauenden Kräften geprägt gewesen, denen die fortschreitenden Jahre nichts anzuhaben schienen. Auch wenn Abschiede und Abstriche in den Aktivitäten im Laufe der späteren Jahre langsam mehr wurden, Neugier, Tatendrang und Erkenntnisstreben blieben ein kraftvoller Motor.
Jetzt, an der Schwelle zum Achtzigsten, ist in Rück- und Vorschau deutlich zu spüren, was sich mir als altersgemäß zeigt. Achtzig, so fühlt es sich also an.
Achtzig und ein bisschen weise?
Was ist anders geworden als in den gefühlten Altern der vergangenen Jahre? In dem Hinschreiten auf die Achtzig zu erlebe ich Einschränkungen so, als könnten sie in späteren Jahren die Altersbehinderungen sein, von denen viel zu hören, zu lesen und im Umfeld der mit mir Alternden zu erleben ist. So lange wie irgend möglich im eigenen Haus zu leben, das möchten meine Frau und ich.
Dass das jedoch ohne fremde Hilfe nicht möglich sein wird, das ist klar. Doch wann ist der Zeitpunkt, das als Möglichkeit zuzulassen? Wir fangen jetzt damit an. Der Fensterputzer ist uns schon länger vertraut, an die teilweise Fremdversorgung des Gartens muss ich mich gewöhnen, denn keiner macht das so gekonnt wie ich. Schneefegen macht ab November die Stader Gehweg-Reinigung. Auch sicher nicht so sorgfältig und rechtzeitig wie ich. Der Anfang ist gemacht, und ich genieße schon jetzt die verbesserten Möglichkeiten, meinen Lendenwirbeln ihre achtzig Jahre zu gönnen.
Der Blick in die Zukunft
Ich fühle mich herausgefordert, das Leben auf das Lebensende hin in den sich stärker wandelnden Rahmenbedingungen mitzugestalten. Auch das ist das Gefühl eines Achtzigjährigen, die Endlichkeit des Daseins, sie rückt näher. Sie ist ein Teil der Hintergrundmelodie, die die Zeit begleitet. Die Beglückungen in den Tagen gewinnen an Strahlkraft. Die Freude darüber, was alles gelingt, der Herbst, der doch noch golden wurde, die Verbundenheit zu lieben Menschen, immer wieder das Leseabenteuer, was sich auch hörend erleben lässt, und so vieles mehr. Glücksforscher meinen, dass der größte Teil der Sorgen, die man sich macht, unbegründet ist. Häufig tritt der Sorgenfall nie ein oder aber er wird ganz anders gelebt als vorgestellt. Damit halte ich das, was an sorgenvollen Szenarien die Altersängste beherbergt, leidlich in Schach.
Heute
Morgentoilette – Gymnastik und Meditation – Blick in den Kalender – Frühstücken – Tagesgeschäfte erledigen und sehen, was der Tag noch so bringt. Zu den Tagesgeschäften gehört immer wieder eine ganze Menge. Davon sind eine Reihe scheinbar wiederkehrende Routinearbeiten. Ich greife eine heraus. Ich nenne sie PC-Arbeit. Und davon wiederum eine: LernCafe. Dafür zu schreiben und/oder organisatorisch mitzuwirken bleibt ein spannender Vorgang. E-Mails wandern hin und her zwischen den Beteiligten oder man trifft sich per Skype, oder auf der gemeinsamen Arbeitsplattform, auf der immer wieder ein neues LernCafe entsteht. Da ist kein Tag wie der andere. Und es schwingt die Freude darüber mit, sich Medienkompetenz und Lebendigkeit der Gedanken im Zusammenspiel mit Freunden zu bewahren. Achtsamkeit verhilft mir dazu, auch vieles andere, was als Routine daherkommt, in gespannter Aktivität zu erledigen.
Wie alt bin ich wirklich?
Ich erlebe am Tag viele Alter. Auch das ist neu mit achtzig. Jetzt bei meiner Geschäftigkeit des Schreibens bin ich weit entfernt von achtzig, gleich beim Kochen ebenfalls. Doch bei der Gymnastik morgens sehe ich schon ganz schön alt aus. Und wenn ich nachher meinen therapeutischen Spaziergang mache, dann lenke ich meine Schritte durchaus gemächlich. Auf dem Fahrrad wiederum kommt ein rüstiger Siebzigjähriger daher. Und so fort, bis der Tag sich neigt. Ein Theologe empfiehlt, abends vor dem Schlafengehen den Tag danach abzusuchen, wofür sich danken lässt. Fünf solcher Ereignisse sollten sich finden lassen. Mit diesen dankbaren Erlebnissen vor Augen beschließe ich den Tag und danke dafür, mein Alter unabhängig von Zahlen differenziert so leben und mitgestalten zu können, wie es sich ereignet. Ob ich das morgen auch so sehen kann? Mein Vertrauen in Gott lässt mich das hoffen. Wie alt ich wirklich bin, ich kann es nicht sagen.