von Lore Wagener
In den Regalen stehen viele Bücher von und über alte Menschen: Memoiren, Biographien, Studien und Ratgeber, Romane, Gedichte oder Erzählungen. Nicht wenige davon sind positiv und sehen das Alter als Möglichkeit und Chance.
Zwei alte Frauen
Vom Nichtaufgeben auch im Alter und dem Mut zum Neuanfang handelt das schmale Buch von Velma Wallis. Sie erzählt eine Legende hoch aus dem Norden Alaskas. Die Geschichte beginnt damit, dass in einem eisigen Winter ein Nomadenstamm von Hungersnot bedroht ist. Um sich „unnützer Esser“ zu entledigen, lässt er an einem Rastplatz zwei über siebzigjährige Frauen in der Wildnis allein zurück und zieht weiter. Die beiden Frauen sitzen verloren am Lagerfeuer und eine sagt “Ich fürchte mich vor dem, was vor uns liegt.“ Doch dann geschieht das Erstaunliche: Die beiden geben nicht auf. Sie nehmen den Kampf mit ihrer unwirtlichen Umgebung auf, besinnen sich auf die Überlebenstechniken ihrer Jugend und schaffen es, sich mühevoll bis zu einem Fluss durchzuschlagen, an dem sie sich eine schützende Unterkunft bauen und ausreichend Nahrung sammeln können. Dagegen geht es ihrem Volk sehr schlecht. Schließlich sind es die beiden Ausgestoßenen, die es mit ihren Vorräten vor dem Ärgsten bewahren.
Velma Wallis
Dies alles erzählt die 1960 geborene Velma Wallis in einer einfachen klaren Sprache. Sie nimmt hier eine Legende ihres indigenen Volkes auf, das in Alaska ansässig ist. Sie gehört zum Stamm der Athabasken, dessen Nachfahren heute vielfach als normale Bürger leben. So ist die in Alaska geborene Autorin auch High-School-Absolventin geworden. Ihre Schilderung wirkt authentisch und ist sehr spannend erzählt, fast eine Robinsonade. Der Leser darf Mut und Ausdauer der alten Frauen bewundern. aber auch ihren Großmut gegenüber ihren Stammesgenossen. Das ist eine zuversichtlich anmutende Lektüre. Ich habe den Roman während einer schweren Krankheit gelesen und muss sagen, dieses Buch hat mir damals gut getan.
Die unwürdige Greisin
Berthold Brecht hat in seiner Kalendergeschichte aus dem Jahre 1939 eine 72jährige beschrieben, die nach dem Tode ihres Mannes einen neuen Anfang durchsetzt. Frau B. war 40 Jahre lang eine selbstlose altmodische Familienmutter gewesen. Nun bricht sie ihren Verkehr mit Familie und Freunden ab und widmet sich ganz ihren eigenen Interessen. Finanzieren kann sie dies mit einer Hypothek, die sie auf ihr Haus aufnimmt. Der Luxus, den sich „die unwürdige Greisin“ nach Meinung ihrer Umwelt nun gönnt, ist aus heutiger Sicht eher bescheiden: Sie geht jetzt öfters ins Kino, besucht ein Rennen, speist im Gasthaus, trinkt gerne ihren Wein und nimmt ein behindertes Mädchen zur Gesellschaft und Hilfe in ihr Haus. Besonders unschicklich finden ihre Kinder ihren Umgang mit einem Flickschuster, der als gesellig und trinkfreudig beschrieben wird und zudem Sozialdemokrat ist. Sie macht also in den letzten Jahren ihres Lebens viele Dinge, die in der damaligen kleinbürgerlichen Schicht unüblich waren.
Berthold Brecht
Der 1898 geborene Brecht war ein Meister der Erzählkunst. Er ließ die Geschichte auf weniger als 10 Seiten von einem Enkel der Greisin berichten. Der Enkel hatte sein Wissen allerdings nur aus zweiter Hand. Er stand den Taten seiner Großmutter anfangs skeptisch gegenüber, doch sagte er am Ende der Geschichte: “Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brotkrumen.“
Brecht hat die Erzählung, die auch politisch-kritische Töne enthält, erst nach 1945 veröffentlicht. Sie nimmt eigentlich Dinge vorweg, die heute selbstverständlich für die dritte Lebensphase sind. Ob man den Brecht’schen Entwurf aber voll zur Umsetzung in die Tat empfehlen sollte, da habe ich Zweifel. In langen Jahren gewachsene Freundschaften und familiäre Beziehungen können auch für ältere Menschen wichtig werden.
Im Labyrinth der Wörter
Die 85jährige Margueritte ist zwar nicht die Heldin dieser Geschichte, doch sehr an ihrem Verlauf beteiligt. Sie ist eine kultivierte zierliche Dame, promovierte Biologin und lebt jetzt in einem Altenheim. Es ist ein „gutes Haus“, wie sie sagt. Bei schönem Wetter findet man sie im nahen Park, wo sie in einem Buch liest oder den Tauben zuschaut. Dort trifft sie auch Germain, den Helden des Buches, mit dem sie sich in ihrer liebenswerten vorurteilslosen Art anfreundet. Es stört sie nicht, dass der 46jährige Germain nicht auf der Sonnenseite des Lebens steht. Er hat keinen Schulabschluss, keinen festen Beruf und gilt als Analphabet. Margueritte ist der erste Mensch, der Germain völlig vorurteilsfrei behandelt und ihn als Person ernst nimmt. Sie beginnt sogar, ihm aus ihren Büchern vorzulesen und darüber ernsthaft mit ihm zu diskutieren. Das ist überwältigend für Germain, der von ihr sagt: „Sie hat immer mit mir geredet als wäre ich jemand. Und das, verstehen Sie, macht einen ganz neuen Menschen aus einem.“
Marie-Sophie Roger
Die 1957 geborene französische Autorin war ehemals Grundschullehrerin. „Das Labyrinth der Wörter“ ist der erste ihrer Romane, der ins Deutsche übersetzt wurde. Sie lässt ihren Ich-Erzähler Germain in der einfachen Sprache, die zu seiner Person passt, berichten. Sie versteht es dann, den Sprachstil des Romans der fortschreitenden Entwicklung ihres Protagonisten anzupassen. Man erlebt, wie Margueritte den sensiblen Germain nach und nach in die Welt der Wörter einführt. Sie weckt behutsam sein Interesse und den Ehrgeiz, Texte zu verstehen und neue Wörter zu lernen. Und Germain, der sich seiner Defizite bewusst ist, fängt zum ersten Mal an, über sich und sein bisheriges Leben nachzudenken. Und als Germain herausfindet, dass Margueritte der Verlust ihrer Sehkraft droht und damit der Verlust ihrer geliebten Lektüre, gelingt es ihm in einem beeindruckenden Kraftakt, sich zum Vorleser fortzubilden. Ein zauberhaftes Buch, das zeigt, dass man auch im hohen Alter noch etwas verändern kann.
Die souveräne Leserin
Eine höchst würdige alte Dame nimmt der englische Dramatiker Alan Bennett mit seiner vergnüglichen Satire „Die souveräne Leserin“ ins Visier“ Es ist keine Geringere als die achtzigjährige Queen. Ihre Umgebung ist es, die Bennett reichlich mit Bosheiten bedenkt. Die Satire beginnt damit, dass Elisabeth II. bei einem Spaziergang einen Bus der Leihbibliothek entdeckt. Sie erkundet ihn und findet als einzigen Leser den Küchenjungen Norman vor. Aus Höflichkeit leiht sie auch ein Buch aus und daraus entwickelt sich allmählich ihre Leseleidenschaft, die sich so weit steigert, dass sie sogar in der Kutsche auf dem Weg zur Parlamentseröffnung liest und dem Volk nur zerstreut zuwinkt. Der Küchenjunge wird ihr literarischer Assistent und besorgt ihr die Lektüre. Später benutzt sie die reichhaltigen Palastbibliotheken. Die Hofbeamten sehen die neue Passion der Queen ebenso mit Befremden wie der Premierminister. Sie versuchen mit allerlei Ränken, die Leseleidenschaft der Queen zu stoppen.
Alan Bennett
In der Satire des 1934 geborenen Dramatikers bleibt die Queen ihrer neuen Passion treu und liest weiter systematisch Klassiker und schöngeistige Werke. Sie geben ihr die Möglichkeit, „zwischen Buchdeckeln unerkannt umherzuschweifen“ und hinter die Kulissen zu schauen. Das ist es, was sie genießt, denn sie hat ja ein Leben hinter Schranken verschiedener Art geführt. Bennett meint zu ihren offiziellen Pflichten: „Schließlich hatten nur wenige Menschen mehr von der Welt gesehen, als sie. Es gibt kaum ein Land, das sie nicht besucht, kaum eine bekannte Person, die sie nicht gesehen hat.“ Aber das waren alles oberflächliche Begegnungen gewesen. Ihre neue Leseleidenschaft ist dagegen anonym, gemeinsam und allgemein. Bennett schildert dies höchst amüsant und gerne auch, in welche Verlegenheit Gäste und Hof kommen, wenn die Queen nun bei offiziellen Anlässen ohne Vorankündigung ungewohnte Fragen nach der Lektüre ihrer Gesprächspartner stellt.
Lebensstufen
Zum Schluss dieser Bücherlese noch ein Zitat aus dem Gedicht „ Lebensstufen“ von Hermann Hesse, das ich besonders schön finde::
„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“