Geistig Behinderte im Ruhestand

von Hildegard Keller

Zu diesem Thema führte ich ein Interview mit Frau Daniela Quicker.Sie arbeitet als Heilerziehungspflegerin in einer Tagesstätte für Senioren im Dominikus Ringeisen-Werk Ursberg/Schwaben, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen.

Frau Quicker, Quelle privat

Hildegard Keller (HK):
Frau Quicker, können Sie mir ein kurzes Statement zu Ihrer Berufswahl geben?

Frau Quicker (FQu)
Es mag in der heutigen Zeit vielleicht befremdlich klingen, aber für mich stand bereits bei den ersten Auseinandersetzungen mit dem Berufswunsch fest, dass ich bei Menschen mit Behinderung arbeiten möchte. Nun bin ich seit 22 Jahren im Dominikus-Ringeisen-Werk beschäftigt und kann behaupten, diese Wahl nie bereut zu haben. Das Dominikus-Ringeisen-Werk bietet in den unterschiedlichsten (Tätigkeits-) Bereichen eine Fülle an Möglichkeiten, bei verschiedenen Personenkreisen tätig zu sein. Die Arbeit mit geistig behinderten Menschen ist täglich neu spannend, interessant, erfüllend, aber auch fordernd. Ich denke, diese Kombination ist mit verantwortlich dafür, dass ein Großteil der Mitarbeiter hier viele Jahrzehnte beschäftigt bleibt.

Holzverarbeitung Quelle Homepage Dominikus Ringeisen-Einrichtungen

HK
Sie betreuen Menschen mit geistiger Behinderung in der Zeit nach dem Berufsleben. Wie sah dieses Berufsleben aus?

Dominikus Ringeisen Quelle Homepage Dom. Ringeisen-Einrichtungen

FQu
Bereits bei Gründung der Einrichtung 1884 war es Dominikus Ringeisen ein großes Anliegen, dass jeder Mensch im Rahmen seiner Fähigkeiten einer Beschäftigung nachgehen kann.
Da das Dominikus-Ringeisen-Werk sich damals weitgehend selbst versorgte, waren die Bewohner vorrangig im Versorgungssektor wie beispielsweise in der Landwirtschaft, im (Obst-)Garten, der Bäckerei und in der Küche tätig. Auch Wäscherei, Schneiderei und Handarbeitsbetriebe waren ein Tätigkeitsfeld. Mit Gründung der Werkstätten in den 70er Jahren hielten Montage- und Verpackungsarbeiten für externe Firmen Einzug.

HK
Ist der Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand bei Menschen mit geistiger Behinderung mit besonderen Ängsten und Schwierigkeiten verbunden?

FQu
Ich denke, die Unterschiede zu jedem anderen Menschen sind letztlich gar nicht so groß. Da das Erlernen verschiedener Fertigkeiten für Menschen mit geistiger Behinderung jedoch häufig zeitintensiver und schwieriger ist, fällt die Trennung vom Einsatzfeld dieser lebensgeschichtlich erworbenen Fähigkeiten sicherlich noch schwerer. Der Verlust vertrauter Strukturen und Abläufe sowie sozialer Kontakte spielt hier sicherlich auch eine große Rolle. Je nach Behinderungsgrad sind viele behinderte Menschen nicht in der Lage, Kontakte selbst aufrecht zu erhalten oder ihre Freizeit eigenständig zu gestalten. Viele Menschen mit geistiger Behinderung benennen auch ihre Angst, dann kein Geld mehr zu verdienen. Eine gute Begleitung und Vorbereitung sind wichtig.

Ballspiel Quelle Homepage Dominikus
Ringeisen-Einrichtungen

HK
Was sind die wesentlichen Elemente der Freizeitgestaltung bei Menschen mit geistiger Behinderung?

FQu
Der geistig behinderte Mensch soll seinen Ruhestand möglichst selbstbestimmt gestalten. Ihm hierbei Hilfestellung zu geben sehe ich als wichtigstes Element in der Betreuung. Der Erhalt lebensgeschichtlich erworbener, also vertrauter Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie eine neue Sinnfindung sind dabei für viele Bewohner sehr wichtig. Ich sehe es als unsere Aufgabe an, Vertrautes zu erhalten, aber auch neue Impulse zu setzen, um den Horizont zu erweitern und eine Weiterentwicklung zu ermöglichen.
In der Seniorenstätte werden Angebote unter anderem aus den Bereichen Biografiearbeit, Erinnerungspflege, Kontaktpflege, Rekreation, Kreativität, Hauswirtschaft und Bildung (auch tagesaktuelle Themen) gemacht. Je nach personellen Ressourcen besteht auf Wunsch der Bewohner auch die Möglichkeit zu verschiedenen Unternehmungen.

HK
Wie wohnen die geistig Behinderten im Ruhestand?

FQu
Bei der Ausstattung der Räumlichkeiten werden im Rahmen der Möglichkeiten gerontologische und behinderungsspezifische Aspekte berücksichtigt. Bei zunehmender Pflegebedürftigkeit besteht die Möglichkeit, innerhalb der Einrichtung in eine Fachpflegeeinrichtung umzuziehen.

HK
Haben geistig Behinderte Wünsche zu ihrer Freizeitgestaltung? Wie werden die Wünsche realisiert?

FQu
Selbstverständlich haben geistig behinderte Menschen sehr klare Vorstellungen, wie sie ihre Freizeit gestalten möchten. Unsere Aufgabe als Fachkraft besteht darin, ihnen das Formulieren dieser Wünsche zu ermöglichen, indem wir beispielsweise dazu motivieren, nachzufragen oder nach Bedarf Hilfsmittel aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation einzusetzen. Wenn die Wünsche dann im Raum stehen, sind wir wiederum gefordert, bei der Realisierung Hilfestellung und Assistenz im Sinne des Bewohners zu geben.

HK
Wie erleben Menschen mit geistiger Behinderung den Alterungsprozess?

FQu
Menschen mit geistiger Behinderung erleben den Alterungsprozess genauso individuell wie jeder andere Mensch. Menschen mit Down-Syndrom altern bekanntlich schneller. Allerdings hat der geistig behinderte Mensch häufig weniger Kompensationsmöglichkeiten, vor allem wenn zusätzlich noch weitere Behinderungen vorliegen. Ein Mensch beispielsweise, der schreiben kann, kann erste Anzeichen einer dementiellen Erkrankung durch Notizzettel kompensieren. Ein Mensch, der nicht schreiben kann, hat diese Möglichkeit nicht.

HK
Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass auch der Mensch mit geistiger Behinderung einer lebenslangen Entwicklung unterliegt. Was ist Ihre Erfahrung?

FQu
Auch der geistig behinderte Mensch unterliegt einer lebenslangen Entwicklung. In unseren Konzepten für die Arbeit mit geistig behinderten Menschen im Alter spielt lebenslanges Lernen eine wichtige Rolle. Auch in diesem Bereich sind unsere Betreuten mehr oder weniger auf Hilfestellung und Assistenz, also auch auf Impulse angewiesen. Die Auseinandersetzung mit der Behinderung, das Aussöhnen mit dem eigenen Leben und seinen Umständen sind lebenslange Prozesse.

HK
Zukunftsplanung bis zum Lebensende: Eine Patientenverfügung für geistig Behinderte. Gibt es dazu Erfahrungswerte?

FQu
Über den unten angeführten Link ist eine Patientenverfügung in einfacher Sprache zu beziehen. Sie ist sehr gut ausgearbeitet und durchaus praktikabel. Ich persönlich habe noch keine Erfahrungen damit gemacht. Allerdings habe ich mit anderen in der Einrichtung an einem Projekt der Caritas teilgenommen, das sich mit dem Thema „hospizliche und palliative Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung“ befasst hat. Es war sehr beeindruckend und berührend, wie klar die Vorstellungen der Menschen mit geistiger Behinderung dahingehend sind und welche Ängste und Befürchtungen sie haben.
Im Anschluss habe ich mit einer gehörlosen Frau ein Fototestament erstellt. Sie war sehr besorgt, was nach ihrem Ableben mit ihrem persönlichen Besitz geschehen würde. Nachdem wir das Fototestament erstellt hatten, wirkte sie sichtlich beruhigt.

HK
Sie haben aus Gesprächen mit Betreuten einige Aussagen festgehalten.

FQu
Ja, ich möchte das Interview mit den Aussagen von drei Betreuten abschließen.
Frau P.: „Mir ist es wichtig, andere Leute zu treffen und mich mit ihnen zu unterhalten. Ich besuche auch gerne meine frühere Arbeitsstelle. In der Seniorenstätte fädle ich gerne Ketten auf.“

“Herr G.: „Ich höre gerne Musik. Krimis sehe ich gerne. Die Seniorenstätte ist mir wichtig. Hier schneide ich gerne Papier mit der Schneidemaschine. Ich mag gerne mit Kräutern arbeiten. Ich treffe gerne Leute zum reden“.

Her B.: „Ein bissle Unterhaltung ist mir wichtig, ich treffe mich gerne mit anderen in der Seniorenstätte. Dort säge ich gerne kleine Sachen aus Holz und schleife sie ab. Am liebsten gehe ich einkaufen und unternehme verschiedene Ausflüge wie Zoo oder Theater.“

HK
Dank
Herrn Steghöfer vom Referat Öffentlichkeitsarbeit des Dominikus-Ringeisen-Werkes danke ich ganz herzlich für seine Bemühungen Mitarbeiter/Innen für das Interview zu gewinnen und sie durch das Interview zu begleiten.
Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Daniela Quicker für ihre Bereitschaft mit mir das Interview zu führen.

Weiterführende Links zum Interview

Homepage Dominikus Ringeisen Einrichtungen Ursberg
Einzelne Themen zu Alter und geistige Behinderung

Bericht Kabinettssitzung Bayern Thema Behinderte
Konferenz Alter und Behinderung

Eine Patientenverfügung für geistig Behinderte