von Erdmute-Dietmann-Beckert
Viele Menschen möchten den Einzug in ein Altenheim möglichst lange hinausschieben, weil sie ihre Selbständigkeit nicht verlieren wollen.
Das Adjektiv „alt“
Dieses kleine Wort ist in unserer Kultur im Gegensatz zu der im asiatischen Raum negativ besetzt. Niemand will alt sein. Jemand hat gesagt: „Wir reden nicht von alt, sondern von älter“. Warum lieber die Steigerung des Adjektivs? Weil es suggeriert: „Ich bin noch nicht alt, nur älter?“ Wahrscheinlich gibt es keine rationale Erklärung. Wir reden heutzutage von Senioren, es klingt besser. Die Heime heißen „Seniorenresidenz“, „Seniorenstift“, „Seniorenwohnheim“. In Gießen heißt das Evangelische Altenhilfezentrum „Johannesstift“. Das klingt gut und es hat einen guten Ruf.
Das „Eintrittsalter“
Wann ist der Zeitpunkt gekommen, in das Altenheim einzutreten, ganz gleich ob es Seniorenheim oder Seniorenstift heißt? Es gibt kein festgesetztes Alter. Allgemein soll der Einzug so weit wie möglich hinaus geschoben werden. Ich habe den Eindruck, dass Männer wie Frauen so lange wie möglich selbst bestimmen möchten, wie sie ihre Tage gestalten. Im Heim haben andere das Sagen.
Allerdings wird der Umzug unausweichlich, wenn Krankheit oder zunehmende Schwäche eintreten. Die Wohnverhältnisse können ebenso der Anlass sein. Oder das Treppensteigen wird beschwerlich.
Ein Freund der Familie hat so lange gezögert, bis er eines Tages in seiner Wohnung zusammengebrochen ist und erst nach Stunden gefunden wurde. Er musste ins Krankenhaus gebracht werden. Danach haben die Kinder dafür gesorgt, dass der Vater in das Altenheim aufgenommen wurde.
Das Altenhilfezentrum „Johannesstift“
Das Seniorenzentrum befindet sich mitten in der Stadt an einer ruhigen Straße. Im 19. Jahrhundert war hier ein evangelisches Krankenhaus. 1933 kam ein Altenheim dazu. Beide Gebäude wurden durch Bomben im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den Jahren danach wieder aufgebaut. Heute präsentiert sich die Anlage mit einem renovierten Altbau und einem modernen Neubau. Auf der Rückseite befindet sich ein Park mit Bänken zum Ausruhen. Alle Zimmer haben ein Bad, die großen Fenster lassen viel Licht in die Räume. Der Träger ist ein gemeinnütziger Verein. Das Johannesstift ist ein christlich geführtes Haus.
Die Aufenthaltsräume in den Etagen unterscheiden sich durch je eine andere Farbgebung.
Im großen Saal des Neubaus finden nicht nur die Gottesdienste statt, sondern auch größere Feste oder Konzerte.
In den kleineren Gemeinschaftsräumen wird gebastelt, in anderen gespielt, gekocht oder mit kleinen und großen Bällen Gymnastik angeboten. So können die Bewohner ihre Muskeln stärken.
Ein Bewohner berichtet
Herr Kleinrosenbleck ist 87 Jahre alt und vor eineinhalb Jahren im Johannesstift in Gießen eingezogen. Er hat nach dem Tod seiner Frau vier Jahre allein in seinem Haus im Ruhrgebiet gelebt, bis seine Töchter für ihn den Umzug in das Johannesstift organisiert haben. Tochter Helga mit Familie und die Enkelfamilie leben zusammen in einem Haus nahe Gießen. Der Vater und die Familien können sich gegenseitig besuchen. Die gemeinsamen Nachmittage sind Höhepunkte insbesondere, weil dann der Urgroßvater seinen Urenkel sehen kann.
Vor einiger Zeit ist die andere Tochter aus der Schweiz zu Besuch gekommen. Beide Töchter sind mit dem Vater im Auto an den Rhein zur Gartenausstellung gefahren. Am nächsten Tag haben sie eine ausführliche Schifffahrt auf dem Rhein gemacht. Das hat ihm alles sehr gefallen. Ich kann es richtig spüren, als er davon erzählt.
Tochter Helga erledigt die Post und andere schriftliche Aufgaben. Herr Kleinrosenbleck ist sichtlich zufrieden. Vor dem Tod hat er keine Angst.
Die Hausordnung
Im Stift ist der Tagesablauf geregelt. Um sieben ist Wecken, um acht Frühstück und zweimal in der Woche ist um neun eine Morgenandacht.
Drei Mal wöchentlich nimmt der alte Herr an gymnastischen Übungen teil und mittwochs gibt es ein Gedächtnistraining.
Die Mahlzeiten möchte Herr Kleinrosenbleck im großen Speisesaal einnehmen. Hier werde er bedient, und er könne selber auswählen, was er essen möchte.
Für die Nachmittage gibt es wechselnde Angebote. Die Bewohner können auch selber gestalten. Herr Kleinrosenbleck geht an schönen Tagen gerne im Park spazieren, auch allein und mit dem Rollator. Sonntags begleitet ihn seine Tochter. Sie ermuntert den Vater sich zu bewegen. Wenn es außerhalb des Hauses nicht möglich ist, kann er seine Runden im Haus drehen.
Die Pfarrer kommen und halten Andachten und Bibelstunden. Das Personal ist freundlich, und es gibt einen Hausarzt.
Zum Schluss
Ich frage mich, warum Alteneinrichtungen allgemein eher negativ gesehen werden. Kommt das Unbehagen daher, dass schon oft schlimme Nachrichten über die Situation in den Häusern in den Zeitungen zu lesen waren? Ich berichte hier über ein Haus, das in Gießen geschätzt wird. Sicher ist es nicht repräsentativ für alle anderen Einrichtungen, in denen alte Menschen leben.
Ich beziehe mich auf eine individuelle Begegnung. Ich frage: „Sind Männer eher zufrieden als Frauen?“
Wir wissen , dass unsere Gesellschaft eine alternde ist, dass wenig Kinder geboren werden und viele Menschen im Alter allein leben.
Es stimmt, die Heime sind die letzte Station vor dem Tod. Der ist hier gegenwärtiger als außerhalb. Und er ist unausweichlich. Aber Wissen und Wünschen sind zweierlei. Hermann Hesse schreibt:
„Und zuletzt ein sanfter Tod, aber später, noch nicht heute!“
Johannesstift Gießen Lahn
Hermann Hesse: Gedichte
Hermann Hesse: „Mit der Reife wird man immer jünger“ Frankfurt M.2003