von Roswitha Ludwig
Wir sind gemeinsam unterwegs, Kind gewordene Mutter und für sie verantwortlich handelnde Tochter. Seit 1999 ist sie eingestuft bei der Pflegekasse mit Demenz, festgestellt wurden Gehirnleistungsstörungen bereits 1996 mit 81 Jahren.
Früher eine tüchtige Familienfrau
Wer bei meinen Eltern Gast war, erinnerte sich gerne an die vorzügliche Küche meiner Mutter. Haus, Garten, Familie, das war ihr Metier. Leidenschaftlich gerne nähte sie. Meine Mutter war eine tüchtige Familienfrau. An Selbstbewusstsein fehlte es ihr nie. Sie bedauerte es jedoch, dass sie keinen Beruf erlernt hatte. Auch die eigene Rente vermisste sie.
Als sie mit 75 Jahren nach über 50 Jahre Ehe Witwe wurde, trauerte sie sehr. Mit meiner Unterstützung in Dingen, die mein Vater verwaltungsmäßig geregelt hatte, wollte sie ganz einfach weitermachen an ihrem Platz. Ihr Platz, das war ihr Haus am Stadtrand mit Garten und Mitbewohnern. Elf Jahre lebte sie dort noch als Witwe.
Weil sie nicht Auto fuhr, schätzte sie die nahen Einkaufsmöglichkeiten und die gute Verkehrsanbindung. Sie nutzte Gruppenangebote für Senioren und besuchte bis Anfang 80 noch Nähkurse.
Unsere Konfliktszeit
Ihre beiden Kinder mit Familien leben jeweils ca.70 km von ihrem damaligen Wohnort entfernt. In ihrer Stadt meldete sie sich in einem Wohnstift an, einer Art betreuten Wohnens. Unter Freunden in Geselligkeit alt werden, das wünschte sie sich.
Gut war die familiäre Anbindung zur Tochter mit üblichen mehrtägigen gegenseitigen Besuchen. Doch das vertrauensvolle Miteinander geriet ins Wanken. Äußerlich nicht sichtbar, körperlich durch Unruhe spürbar, schlich sich die Demenz ein: ständiges Suchen und Vergessen, Ignorieren abgesprochener Termine, fehlende Verlässlichkeit, Angriffslust und Beschimpfungen sowie Unterstellungen vor allem in finaziellen Dingen. Geld kann ein schwieriges Thema sein. Die Bank wies auf auffällig häufige Scheckanforderungen hin. Einerseits suchte sie Hilfe, andererseits fühlte sie sich bevormundet. Bei Tag und Nacht gab es Anrufe mit manchmal sehr heftigen Vorwürfen: Diebstahl, Urlaubsverweigerung, auch Wegdrängen von zu Hause.
Blick auf das Heute
In 12 Jahren Pflegezeit musste ich mit dem Dokument „Generalvollmacht“ schon schwere Entscheidungen treffen.Heute lebt meine Mutter sechs Kilometer von meinem Wohnort entfernt in einem Pflegeheim. Sie kann nicht mehr sprechen, nicht mehr gehen, nicht mehr stehen, ihre Hände gehorchen kaum mehr. Nach einem leichten Schlaganfall ist die rechtsseitige Wahrnehmung beeinträchtigt.
Fast täglich gebe ich ihr die Abendmahlzeit, lasse sie in kleinen Schlucken aus einem Becher trinken. Ganz selten hält sie ihn noch selber und versucht ihn zum Mund zu führen. Sie verschluckt sich oft, doch manchmal isst sie mit Genuss. Wer ich für sie bin,weiß ich nicht, doch sie reagiert auf mich oft zärtlich. Wir sind uns vertraut und haben unsere Rituale
Wenig Reaktion zeigte sie, als wir ihr das sechstes Urenkelkind auf den Schoß setzten.
Von uns so fern und doch so nah, das ist das jetziges Leben. Sehr bewusst erlebe ich ihr Dahinschwinden und das Heranwachsen des Kindes – Werden und Vergehen.
Ambulante Pflege am Wohnort
Bis Juni 2002 lebte meine Mutter in ihrem Haus natürlich mit Hilfen. Von November 1999 an wurde sie drei bis viermal pro Woche in eine Tagespflegeeinrichtung abgeholt, das akzeptierte sie. Mehrmals täglich telefonierten wir. Regelmäßig rief ich morgens an, sie kreuzte auf dem Kalender den Tag an und ließ sich anleiten. Der Fahrdienst zur Tagespflege holte sie ab. Daheim verabreichte die Sozialstation zweimal täglich Medikamente.
Mittwochs blieb sie zu Hause, da kamen der Arzt, mein Bruder mit seiner Frau und die Sozialstation, die sie duschte. Ihrem Arzt vertraute sie meistens. Mit seinen Anweisungen konnten wir alle Hilfen begründen, auch dass sie zu Hause mit Essen auf Rädern versorgt wurde.
Während seiner Studienzeit wohnte ihr Enkel in einer kleinen Wohnung im Haus. Eine Nachbarin besuchte sie täglich und achtete auf sie. Mit allen stand ich in regelmäßigem Austausch. Seit 2001 steht auf dem Ausweis 100 % behindert – hilflos –. Der Arzt drängte auf Veränderung, die Tagespflege auch.
„Urlaub“ im Heim
Vom Wohnstift hatte sie eine Absage bekommen. Ihr Arzt empfahl eine Heimunter-bringung in der Nähe von einem der Kinder. Selber unterschrieb sie eine Vormerkung in unserem Nachbarort. Ein anderes Heim nahm sie zur Kurzzeitpflege auf. Den Aufenthalt konnte ich ihr als Urlaub schmackhaft machen. Sie wirkte zunächst nicht unzufrieden. Doch sie konnte sich nicht mehr orientieren, trotz Foto an der Zimmertüre und umgehängter Zimmernummer irrte sie durch das Haus auch nachts. Sie betrat fremde Zimmer, lief weg. Gegenüber manchen Pflegekräften leistete sie heftigen Widerstand.
Wegen Gewaltanwendung wurde sie zwangseingewiesen in eine psychiatrische Klinik.Wir kehrten vorzeitig aus unserem Urlaub zurück. Mit Sicherungsgurt am Stuhl fand ich eine völlig apathische Person vor. Seitdem weiß ich, was ruhigstellende, sedierende Medikamente sind. Sie konnten nicht einfach abgesetzt werden. „Führbarkeit ist eine Gratwanderung“ sagte man mir, als ich die Vollmacht vorlegen musste.
Der erste Dauerpflegeplatz
Sind die Dementen medikamentös eingestellt, empfiehlt die Klinik für die Unterbringung ein geschlossenes oder offenes Haus. Sie konnte in das Heim zurückkehren und ein schönes Dauerzimmer beziehen. Fotos, eigene Vorhänge, kleine Kaffee-Einladungen im Zimmer sollten es zum Zuhause werden lassen. Oft freuten sie meine Besuche, oft beschimpfte sie mich, meinte sogar, ich wolle sie vergiften.
Allmähliche körperlichen Veränderungen beunruhigten mich: schlurfende Schritte, erschlaffte Muskulatur, ein fast torkelnder Gang. Es hieß, die Krankheit schreite fort. Schlafend im Rollstuhl traf ich sie oft an. Weil sie nachts stürzte, musste vom Gericht ein Bettgitter genehmigt werden.
Der Heimaufsicht fiel ihre starke Sedierung auf, sie wurde reduziert, die Kräfte kehrten zurück. Der Gehstock reichte aus. Spiele mit Zahlenreihen gelangen ihr noch gut auch das Schreiben. Im Juni 2003 wurde mir die fristlose Kündigung ausgehändigt, weil sie in diesem Haus mit Demenz nicht gepflegt werden könne.
Geschlossene Unterbringung
Nun musste sie hinter verschlossenen Türen leben, vormundschaftsrichtlich beschlossen. Wenige solcher Häuser standen zur Auswahl. Sie bezog einen Bau aus den 70er Jahren. Demnächst wird das Gebäude abgerissen, weil nicht mehr renovierungsfähig. Im ersten Stock lag die Station mit 25 verwirrten Bewohnern, die eigentlich nur durch ihre Angehörigen an die frische Luft kamen.
.„Ein bedrückendes, düsteres Wohnumfeld“ schrieb ich einmal an die Lokalzeitung, als diese von der guten Zertifizierung berichtete. Dass man in dieser Fachstation weniger sedierte, war ein Trugschluss. Bei großer Unruhe durfte eine Bedarfs- medikation verwendet werden, die in kurzer Zeit ruhig stellte. Unsichtbare Fesseln sind das.
Meine Mutter konnte bald keinen Löffel mehr halten, wurde wegen Sturzgefahr auf einem Stuhl festgesetzt und in Windeln gepackt. Kurz nacheinander verschwanden Ehering, Armbanduhr auch die Zahnprothese. Die neu gefertigte nahm sie bald nicht mehr an.
Umzug ins dritte Heim
Ihre eigene Vormerkung führte 2007 dazu, dass ihr ein Platz in einer neuen beschützten Station angeboten wurde. Sie konnte ein Einzelzimmer beziehen in einem Wohnbereich, zu dem 13 Verwirrte gehörten in Erdgeschosslage mit dazugehörigen Garten. Umgezogen wurde mit einem Rollstuhltransporter.
Die Dementen waren deutlich wacher in diesem Haus, mehr Angehörige kamen regelmäßig. Einer leichten Sedierung musste ich zustimmen. Sie konnte bald abgesetzt werden, weil meine Mutter beim Pflegen weniger Widerstand leistete.
Leider wurde dieser Wohnbereich vergrößert und die überschaubare Tischrunde aufgegeben. Weil verwirrte Läufer untergebracht werden mussten, wünschte das Heim ihr Verlegung in eine allgemeine Pflegestation. Im Speiseraum wird weniger gesprochen, dafür läuft ständig das Radio mit deutschen Schlagern. Bei den Dementen dagegen gab es unbefangenes Ansprechen, war es irgendwie lebendiger, ja sogar heiterer.
Miteinander im Entschwinden
Aus der Anfangszeit belegen Zettel und Briefe, dass sie voller Angst Veränderungen spürte. Obwohl noch zu Hause, schrieb sie, sie wisse nicht, wo sie sei – oder: „Ich irre in der Welt umher, ich habe keine Heimat mehr“.
Zu ihrem 95. Geburtstag lud ich die Familie zur Feier ins Altenheim ein. Wie früher sollte gefeiert werden. Sie habe nichts mehr davon, das ließ ich nicht gelten. Wir konnten ihr unsere verbundene Nähe zeigen, das war in ihrem Sinne. So hatte sie es uns vorgelebt vor dieser Krankheit. Das können wir weitergeben. Die Torte schmeckte ihr. Jede ihrer teilnehmenden Regungen wurde freudig beobachtet.
Ihr langes Leben veranschaulichte eine Leiste mit 95 aufgereihten Wäscheklammern Anhänger für Geburten, Todesfällen und Hochzeiten mit den jeweiligen Namen waren zuzuordnen.
Die Zeitleiste wird fortgeführt – ein Jahr weiter, eine neue Klammer, ein neuer Anhänger für die Geburt des sechsten Urenkelkindes.
Ihre Lehre für mich
Meine einst so tätige, so temperamentvolle, so begeisterungsfähige und auch leidenschaftlich kämpfende Mutter vermittelt mir ihre letzte Lehre, dass das Dasein völlige Hilflosigkeit bedeuten kann – dass es ausgehalten werden muss. Ich will ihr beistehen und freue mich über alle Zeichen ihrer Verbundenheit.
Jeder Tag ist gerade bei dieser Krankheit anders, einem verschlossenen kann einer folgen, an dem wieder ein Zugang aufblitzt. Niemals darf man sagen: Kranke bekämen nichts mehr mit. Solange ein Mensch atmet, wissen wir nicht, was in ihm vorgeht. Manchmal denke ich mir Worte aus, die sie vielleicht sprechen würde.
Links:
Umfassende Informationen und wertvolle Tipps liefert die Deutsche Alzheimer Gesellschaft (DalzG)
Wenn Betroffene Klarheit und Rat suchen, sind die Gedächtnissprechstunden eine gute Adresse. Wir nutzten die im Klinikum Langensteinbach.
Gentutzte Pflegeeinrichtungen:
Tagespflege:
Vollstationäre Pflege: Ihre Aufenthalte seit 2002 in drei Häusern:
http://www.buergerheim-weil-der-stadt.de/
http://www.samariterstiftung.de/seite104.htm
http://www.drk-altenpflegeheime-bb.de/heime-standorte/renningen.html