von Elisabeth Grupp
Es war kein Abendrot am 30. März 1945, das rot am Himmel über dem Rhein leuchtete. In dieser Nacht erkämpften Franzosen und Amerikaner den Übergang über den Rhein.
Was mögen meine Eltern bei diesem Anblick gedacht haben, während wir Kinder selig schlafend in den Betten lagen?
Meine Kindheit
Als Dritte im Bund meiner Geschwister möchte ich, Elisabeth, 1937 geboren und am Ende des Krieges knapp achtjährig, einige Erlebnisse erzählen.
Viele Jahre meiner Kindheit lebte ich gefühlsmäßig in einer Zeit der Angst u. Bedrohung. Ich war zwar durch meine Eltern behütet, sowie als Jüngste meiner Geschwister immer mit Nachsicht geschont, und doch verwurzelte sich der Krieg tief im Innern meiner Seele als eine Normalität meines Lebens. Ich kannte nicht die Zusammenhänge der Geschehnisse, aber die gesprochen Worte von Personen hinter vorgehaltener Hand, oft in ängstlichem und sorgendem Ton, hinterließen eine kindliche Bedrücktheit.
Spiele
Um als Kind damit leben und sich entwickeln zu können, musste man sich mit diesen Gegebenheiten abfinden. Was man fühlte, wurde gespielt und die Spiele drückten die damalige Siegesbegeisterung unter uns Kindern aus. Es gab sogenannte Kriegsspiele. Man zeichnete auf den Boden Felder als Länder ein. Ein Mitspieler rief: “Deutschland erklärt den Krieg …“ Ein anderer hatte einen Stein, den er auf einem Bein hüpfend, in das ausgerufene Land lancieren musste, was nicht leicht zu erreichen war.
Gefährliche Erlebnisse
An einem Nachmittag, setzte mich Großvater in seinen großen Leiterwagen, den er zog, Er wollte auf seinen Acker gehen. An diesem Tag wurden wir auf dem Acker von Tieffliegern angegriffen und beschossen. Ich höre heute noch den schrillen und pfeifenden Ton. Sobald sie anflogen, rief Großvater mir zu: “Hinlegen!“ und gleich lagen wir in einer Ackerfurche. Flogen sie wieder hoch, rief er: “Auf, auf, marsch, marsch!“ und wir rannten in Richtung zu einer am Ackerrand verlaufenden Hecke. Da ich jung war und schneller rennen konnte, erreichte ich vor ihm die rettende Sicherheit. Für mich war es belustigend, Großvater zu sehen, verfolgt von den Tieffliegern, der sich, wie ein Hase sputete, dann wieder in der Furche lag, seinen Kopf mit der Mütze schützend bedeckte, bis er nach vielen Anläufen bei der Hecke ankam. So konnte ich dem Schrecken einen Augenblick der Erheiterung abgewinnen.
Dauernder Fliegeralarm
Zur Bedrückung trug der immer wiederkehrende Fliegeralarm während des Tages, wie auch in der Nacht bei. Bei Bombenangriffen in der Nacht hatte Vater die Aufgabe, mich in schlafendem Zustand in den Keller zu tragen. Unten angekommen hatte ich auf dem Transfer öfters meine Strümpfe oder Schuhe verloren und Vater musste sich auf der Suche im Dunkeln die Treppe hochtasten. Ein Licht während eines Angriffes anzumachen war gefährlich und strengstens verboten.
Einmal während des Sommers hatte Mutter das Bettzeug zum Sonnen in den Hof gebracht. Das bunte Inlett leuchtete wunderschön in der Sonne. Es war in der Mittagszeit, während Mutter Kirschküchle backte, als plötzlich Tiefflieger angriffen. Sie flogen an und schossen auf die bunten Farben, dass die Patronen-Hülsen nur so am Boden entlang hüpften. Sobald sie hochflogen, sprangen wir in den Hof um die Betten hereinzuholen, dann flogen sie wieder an und wir mussten rennen, wie die Wiesel, um ins Haus zu kommen. Nach mehreren Spring- und Rettungsversuchen hatten wir alles unter Dach und Fach. Mutter, die nach einer kurzen Erholungspause die Küchle fertig backen wollte, konnte trotz aller Mühe ihre Pfanne nicht mehr finden. Es stellte sich später heraus, dass sie im Schreck die Pfanne in die Holzkiste geworfen hatte.
Einschulung
Im Monat August wurde ich, sechsjährig, eingeschult. Weil Mutter im Krankenhaus lag, begleitete mich Tante Maya. Bei der Aufnahmefeier war im Schulhof ein großes Aufgebot von Schülern. Wir waren von ungefähr 4000 Einwohnern 160 Erstklässler. Ich erinnere mich an die Beschwerlichkeit, während des Singens vom „Deutschlandlied“, mein Ärmchen hochzuhalten.
Eine besondere Begeisterung war für mich, wenn Soldaten in Kolonnen singend durch das Dorf marschierten. Alle Kinder rannten den Kühnles-Buckel hoch und nahmen an dem Schauspiel teil.
Ich war fasziniert von den schönen im Gleichschritt marschierenden Soldaten und bedauerte zutiefst, dass ich ein Mädchen war. Die Soldaten benutzten das schöne deutsche Liedgut. Mit Vorliebe hörte ich gerne: “Wenn‘s Regiment früh ausmarschiert, der Tambour seine Trommel rührt“ oder: “Es ist so schön Soldat zu sein.“ Die Begeisterung sickerte in alle Bereiche ein.
Der große Angriff auf unser Dorf
Es war morgens am 31. März, einem Karsamstag, als der große Angriff auf unser Dorf stattfand. Mein Vater verließ im Morgengrauen mit meinem 16 jährigen Bruder das Haus, um einen Bunker fertig zu bauen. Der Acker hatte einen hohen Rain an einem Hohlweg ungefähr 5 km vom Dorf entfernt, der durch angrenzenden Wald von jeglicher Einsicht geschützt war. Es war zu befürchten, dass der Feind wegen der Stadtnähe unser Dorf zerstören würde. Mein Vater wollte deshalb außerhalb des Dorfes einen sicheren Unterstand bauen.
Meine Mutter, die in der Nacht durch den Geschützdonner die näher kommende Front erkannte, kleidete uns gut ein. Später wollte sie einkaufen gehen und anschließend noch in ihrem Elternhaus einen Besuch machen. Ich durfte mit ihr gehen aber meine Schwester sollte im Haus bleiben. Als wir beim Großvater ankamen, kündeten die Sirenen den ersten Alarm an und kurz vor dem Erreichen des Kellers war schon Vollalarm. Von dem Luftdruck der ersten Bomben schlug die Tür hinter uns zu. Das war der Angriff auf die Kirche, die zweite Welle galt unseren Häusern.
Meine Schwester
Sobald etwas Ruhe eingekehrt war, rannten wir vom Keller hoch. Meine Mutter hörte auf der Straße einen Jungen rufen: „In der Luisenstraße steht kein Haus mehr!“ In der Angst um meine Schwester eilte meine Mutter zurück in den Garten ihres Elternhauses und sah in der Ferne die Trümmer unseres Hauses!
Wir rannten dorthin. Der Boden war übersät mit Blättern, gemischt mit kleinen Ästen und Rinde von den Alleebäumen. Vor den Trümmern angekommen, hörten wir eine Frau rufen: „Ihre Tochter lebt! Sie ist im Luftschutzbunker“. Meine Schwester war nach der ersten Angriffswelle in das Nachbarhaus gerannt. Wäre sie zu ihrer Lieblingsnachbarin gegangen, hätte sie nicht überlebt. Unsere Familie war gerettet, aber meine Tante und Cousine, sowie die Nachbarin und ein Soldat waren Opfer des Angriffs. Inzwischen hatte ein Onkel meinen Vater und Bruder vom Wald geholt, und man begann, die Toten zu bergen.
Die Folgen
Eine Schwester meiner Mutter holte meine verängstigte Schwester und brachte sie in Großvaters Haus. Unterwegs trafen sie den Onkel, dessen Frau und Tochter gerade umgekommen war. Er hatte auf dem Heimweg von seiner Arbeit einen Strauß Schlüsselblumen gepflückt.
Auf einem zweirädrigen Karren brachte man die Toten in die Leichenhalle eines kleinen Krankenhauses. Dort hat mein Onkel sie gesehen und hat sie mit den Blumen geschmückt. Später beim Großvater, bei dem wir alle Aufnahme fanden, saß mein Onkel weinend, den geröteten Kopf in die Hände gestützt darunter war eine Pfütze aus Tränen. Ich habe in meinem Leben nie mehr einen Menschen so weinen gesehen.
Diese mich umgebende Trauer konnte ich nie mehr vergessen. Die viele Toten wurden eilends auf dem Friedhof bestattet, als der Ort schon unter Artilleriebeschuss lag. Nur meine Eltern und der Onkel gingen zur Beerdigung.
Fünf Tage im Wald
Es war Eile geboten, wenn wir noch vor den Kampfhandlungen zu unserem Bunker gelangen wollten. Daher belud man einen Leiterwagen mit Vorräten und Bettzeug für mehrere Tage. Als wir beim Bunker ankamen, trafen wir dort eine kleine Kolonne von Frauen, Männern und Kindern aus unserem Dorf, die unseren Bunker besetzt hielten. Offensichtlich wussten einige, dass die Männer einen sicheren Unterstand gebaut hatten. Mein Vater bestand darauf, dass die Frauen mit ihren Kindern einen Platz bekamen, während sich die Männer im angrenzenden Wald eine kleine Hütte aus Ästen und Tannenzweigen bauten.
Wir Kinder fühlten uns sicher im Wald, zwar hörten wir die Granaten pfeifen, aber mein Vater sagte: „Wenn sie pfeifen sind sie über uns weg geflogen“. Es fehlte uns nicht an Abwechslung. Manchmal kamen Soldaten bei uns vorbei und ich erinnere mich an Gespräche, die sie mit den Eltern führten.
Ostern 1945
Als das Essen knapp wurde und den Kindern die Milch fehlte schlich sich eine mutige Frau ins Oberdorf und brachte nicht nur einem Eimer Milch und Brot, sondern – oh Wunder – auch gefärbte Ostereier mit. Wenn man vom Elend absah, verbrachten wir Kinder ein schönes Osterfest. Nach diesen Tagen kehrten unsere Eltern mit uns ins Dorf zurück. Kurz vor meines Großvaters Haus kam uns ein Schwarzer entgegen, von dessen Anblick ich so hingerissen war, dass man mich fortziehen musste. Ich kannte bis dahin nur das kleine Negerle an der Krippe, welches beim Einwurf einer Münze nickte. Einige Zeit später bekam ich von einem schwarzen Soldaten die erste Schokolade meines Lebens.
Zusammenfassung
Den Verlauf des Krieges sowie die Zeit danach haben meine größeren Geschwister, die bedingt durch ihr Alter mehr mittragen und erleben mussten, ausführlicher u. schriftlich festgehalten, während ich, als damals „die Kleine“ das mehr von der kindlichen Seite beschreibe. Dennoch gibt es Augenblicke, in denen das Erlebte nach so vielen Jahrzehnten hautnah wieder zum Bewusstsein kommt und ich mich frage: Warum? Es bleibt einfach für immer unvergessen. Jeder erlebte dieses Geschehen des Krieges und der Zeit danach auf seine Weise. Es bleiben die Erlebnisse einer verlorenen Zeit.